Eines der letzten Blätter des Ausstellungsparcours zeigt eine Anbetung des Christuskindes mit einer überraschenden Leerstelle: Ausgerechnet das Christuskind fehlt.
Es ist ein Kupferstich, den der Künstler nicht mehr fertigstellen konnte. Er wurde von Goltzius' Erben posthum im unvollendeten Zustand gedruckt und herausgegeben.
Modernes Werken und Wirken
Die Nachfrage nach Goltzius' Werken war enorm. So durchstöberte man nach seinem Tod seine Werkstatt nach allem, was noch irgend verkäuflich war.
Für das heutige Publikum ist diese Art über den Tod hinaus mit einem Werk Geschäfte zu machen durchaus vertraut. Auch sonst hat das Leben und Wirken des niederländischen Malers und Kupferstechers Hendrick Goltzius erstaunlich moderne Züge.
Kupferstich war Teamwork
1558 als Sohn eines Glasmalers geboren, wächst Hendrick Goltzius in die Welt von Kunst und Handwerk hinein. Er hat Talent und früh zeigt sich der Erfolg. 1582 gründet er seinen eigenen Verlag.
Kupferstich war im 16. Jahrhundert Teamwork: Erfinder entwarfen die Motive, Stecher präparierten in mühsamer Arbeit die Druckplatten, Verleger brachten die Blätter auf den Markt.
Kupferstiche entstanden nicht wie Gemälde auf Bestellung. Ein Verleger musste ein Gespür dafür haben, welche Motive und Stile sich gut verkaufen liessen. Er musste mit den richtigen Erfindern und Stechern zusammenarbeiten.
Goltzius prägte kommende Generationen
Hendrick Goltzius beherrschte alle Tätigkeiten des Metiers. Er war kreativer Erfinder, virtuoser Stecher und cleverer Verleger in einem. Er bot eine grosse Bandbreite an Sujets an: Heiligenbilder, Landschaften und – eine seiner Spezialitäten – Männerakte in ungewöhnlichen Perspektiven.
Er arbeitete mit vielen namhaften Kupferstechern zusammen und bildete auch selber aus. Seine Technik, die Platte mit kräftigen, schwungvollen, gut strukturierten Stichen zu bearbeiten, wurde stilbildend für eine ganze Künstlergeneration.
Die hohe Kunst des Abkupferns
Hendrick Goltzius konnte aber auch ganz anders: Die Ausstellung zeigt einen sechsteiligen Zyklus zum Leben Marias, für den Goltzius jedes Blatt in einer anderen Technik gearbeitet hat. Einmal orientiert er sich an Tizian, einmal an Lucas van der Leyden.
Dabei handelt es sich nicht um Nachahmungen im heutigen Sinne. Für Künstler des 16. Jahrhunderts war es normal, sich in der Handschrift berühmter Vorbilder zu üben, um sich an ihnen zu messen. Man wollte Fingerfertigkeit beweisen.
Ausgeprägter Sinn für Imagepflege
Goltzius war darin ein wahrer Meister. Vor allem wenn es darum ging, Dürer abzukupfern. Dessen Kupferstich-Techniken beherrschte er so perfekt, dass auch Fachleute sich immer wieder täuschen liessen.
Die kleine, feine Ausstellung leistet auch einen hoch interessanten Beitrag zur aktuellen Diskussion um Originale, Zitate und Plagiate in der Kunst.
Goltzius soll es gefreut haben, wenn er einen eigenen Kupferstich als echten Dürer gehandelt sah. Eine gelungene Nachahmung galt als Ausweis höchster Könnerschaft und steigerte den Ruhm eines Künstlers. Auf nichts achtete Goltzius so eifersüchtig wie auf seinen Ruf.
Er soll auf seinen zahlreichen Reisen sogar als einfacher Händler verkleidet bei italienischen Druckern und Verlegern umhergeschlichen sein, um zu hören, was man in der Kupferstich-Szene über den grossen Goltzius sagt. Denn Goltzius wusste – und auch darin war er sehr modern – das Image ist für einen Künstler alles.
Kultur kompakt, 19. August 2016, 12.10 Uhr.