Die deutschen Behörden haben beim spektakulären Kunstfund in München über 1400 Werke beschlagnahmt – 1285 ungerahmte und 121 gerahmte Bilder. Dies teilte der Augsburger Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz an der Pressekonferenz am Dienstag in Augsburg mit.
Die Durchsuchung der Wohnung des Kunsthändler-Sohnes Cornelius Gurlitt in München habe am 28. Februar 2012 stattgefunden, sagte Siegfried Klöble, Leiter des Zollfahndungsamts München. Bisher ging man in den Medien von 2011 aus. Die Kunstwerke seien in sehr gutem Zustand und fachgerecht gelagert gewesen, allerdings zum Teil verschmutzt.
Spektakulär sind nicht nur die Bilder an sich, sondern auch die Tatsache, dass die Werke über Jahrzehnte unentdeckt blieben. Doch der Ruf, dass die Kunstgeschichte umgeschrieben werden müsse, ist wohl verfrüht. Noch weiss man zu wenig über den immensen Kunstfund.
«Ein unheimliches Glücksgefühl»
Unter den beschlagnahmten Bildern sind nach Angaben der Ermittler Werke von Pablo Picasso, Marc Chagall, Franz Marc, Emil Nolde, Carl Spitzweg, August Renoir, August Macke, Gustave Courbet, Max Beckmann, Henri Matisse, Ernst Liebermann, Otto Dix, Oskar Kokoschka, Karl Schmidt-Rottluff, Henri Toulouse-Lautrec und Ernst Ludwig Kirchner.
Einige dieser Bilder waren bisher sogar gänzlich unbekannt – etwa ein Selbstporträt von Otto Dix von 1919 oder ein Werk von Marc Chagall. Diese Künstler gelten gemeinhin als gut erforscht. Dass die neu entdeckten Werke in keinem Verzeichnis auftauchen, ist spektakulär. Doch es steht viel Arbeit an, bei gänzlich unbekannten Werken ohne Biographie ist es extrem aufwändig zu klären, woher sie stammen und wem sie gehören.
Die Werke seien «von ganz ausserordentlicher Qualität», sagte die Berliner Kunsthistorikerin Melke Hoffmann. Die Bilder entdeckt zu haben, sei «natürlich ein unheimliches Glücksgefühl». Die Forschung zu den einzelnen Künstlern werde davon sehr profitieren.
Ältestes Werk stammt aus dem 16. Jahrhundert
Melke Hoffmann sagte, es handle sich nicht nur um NS-Raubkunst und Werke der klassischen Moderne, sondern auch um deutlich ältere Bilder – auch Bilder aus dem 19. Jahrhundert sind darunter. Das älteste Werk stamme aus dem 16. Jahrhundert.
Hoffmann ist Expertin von der Forschungsstelle «Entartete Kunst» der Freien Universität Berlin. Sie untersuchte die Werke der Sammlung und rechnet mit langaundauernden Ermittlungen, um die Herkunft der Bilder zu klären. Es gilt herauszufinden, wem die Bilder gehören, bei welchen es sich um sogenannt «entartete Kunst» aus Museen handelt, und welche Bilder Nazi-Raubkunst aus ungeklärter Provenienz sind.
«Gurlitt nicht nur als Bösewicht anschauen»
Experte Christian von Faber-Castell befasst sich seit langem mit dem internationalen Kunstmarkt und schreibt für die «Finanz und Wirtschaft» und das «Handelsblatt». Auch er ist überrascht vom Fund in München, hat aber früh am angeblichen Gesamtwert gezweifelt. Im «Tagesgespräch» auf Radio SRF sagte er: «Ich bewundere, wie die deutschen Behörden das so lange geheim halten konnten.» Man war davon ausgegangen, dass die Sammlung beim Bombenangriff auf Dresden verbrannt war – das machte es für Cornelius Gurlitt leichter, kleinere Werke wie Grafiken oder Zeichnungen zu versteigern und auf den Markt zu bringen, um sich über Wasser zu halten.
Dass Cornelius Gurlitt überhaupt noch am leben war, wusste von Faber-Castell nicht. Die Familie Gurlitt hatte viele jüdische Verwandte: «Man hat die Familie bisher vor allem als eine vom Dritten Reich geschädigte angeschaut. Sie sahen sich zu Recht auch als Opfer.»
Kunsthändler Hildebrand Gurlitt war ein Verfechter der neuen Kunst gewesen, wurde dann abgesetzt und war sehr verbittert gewesen – dass der Sohn Cornelius dadurch einige Traumata mitgenommen hat, sei nicht erstaunlich. «Es wäre gefährlich, Gurlitt nur als Bösewicht darzustellen, der aus Geldgier mit den Nazis handelte.» Wo Cornelius Gurlitt sich im Moment aufhält, ist unklar, gegen ihn wird wegen Unterschlagung und Steuerdelikten ermittelt.
Fotos der Werke sollen nicht online gestellt werden
Anders als spekuliert worden war, gehen die Ermittler nicht davon aus, dass Cornelius Gurlitt noch ein zweites Lager hat. Das Gemälde «Löwenbändiger» von Max Beckmann sei vor der Durchsuchung 2012 versteigert worden. Und die Gemälde seien jetzt nicht in einem Depot in Garching bei München gelagert, sondern an einem geheimen Ort untergebracht. Weitere Fotos der Werke werden nicht veröffentlicht, sagte Oberstaatsanwalt Nemetz. Dies könnte die Interessen von Anspruchsberechtigten verletzen.
Bekannt wurde zudem, dass der Kunsthändler-Sohn Cornelius Gurlitt auch ein Haus im noblen Salzburger Stadtteil Aigen besitzt. Dieses Haus sei noch nicht durchsucht worden, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Salzburg. Deutsche Behörden hätten sich noch nicht mit einem Rechtshilfeverfahren an die österreichischen Ermittlern gewandt.
Eine Sensation
Die Meldung von Sonntag über den Fund der Kunstsammlung in München war eine Sensation. Mit Spannung wurde deshalb die heutige Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft erwartet. Warum der Fund bis jetzt geheim gehalten wurde und um welche Gemälde es sich beim Fund tatsächlich handelte – darüber wurde bis dahin spekuliert.
Den Fund des Kunstschatzes publik gemacht hatte das Magazin «Focus». Es spekulierte über einen Wert der Sammlung von einer Milliarde Euro. Die Gemälde wurden in der Münchner Wohnung des 79 Jahre alten Cornelius Gurlitt entdeckt, er ist der Sohn des 1956 verstorbenen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt. Die Erben jüdischer Kunstsammler haben die deutschen Behörden für die lange Geheimhaltung scharf kritisiert. Auf die Spur der Bilder kamen die Ermittler nach einer Personenkontrolle Cornelius Gurlitts am 22. September 2010 in einem Schnellzug von Zürich nach München. Dabei ergab sich der Anfangsverdacht einer Steuerstraftat.