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Kunst Marina Abramović: «Heute ist Nichtstun ein absolutes Tabu»

Schafft es die Kunst, Zeit neu erlebbar zu machen? Marina Abramović ist davon überzeugt. In ihren «Long-Duration-Performances» strapaziert die Künstlerin nicht nur sich selbst, sondern auch ein gewilltes Publikum – in der Hoffnung, dieses in neue Bewusstseinsphären zu transportieren.

Marina Abramović

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Legende: SRF/Andrea Meier

Marina Abramović, 1946 in Belgrad geboren, ist eine der bekanntesten Performance-Künstlerinnen weltweit. Bereits in den 1970er-Jahren trat sie in Performances auf, die sie bis heute – meist im Alleingang – auf die Spitze treibt: Ihre «Long-Duration-Performances» zeigte sie u.a. im MoMa in New York, zuletzt im Centre d'Art Contemporain in Genf.

In Ihren sogenannten «Long-Duration-Performances» befassen Sie sich mit der Frage, wie Zeit erfahrbar ist. Was kann das Publikum aus Ihren Auftritten lernen, beispielsweise aus der Performance «Counting the Rice», die sie kürzlich im Centre d’Art Contemporain in Genf inszenierten und bei der Sie die Besucher mehrere Stunden Reis zählen liessen?

Marina Abramović: In meinen Performances stelle ich das Nichtstun an allen Anfang. Denn nur, wenn wir nichts tun, können wir auf unser Inneres hören, unsere Gedanken und unseren Körper wahrnehmen. Als ich in Genf war, habe ich das Cern besucht. Wissenschaftler erklärten mir, dass die Zeit tatsächlich immer schneller vergeht. Das liegt daran, dass sich das Universum beschleunigt ausdehnt.

Zu dieser wissenschaftlichen Tatsache kommt die Empfindung hinzu, in unserem Leben für alles immer weniger Zeit zu haben. Wir sind Sklaven einer technologischen Entwicklung, weswegen wir ständig mit technischen Geräten umgeben sind – diese rauben uns die Zeit für Privates. Nichts zu tun ist ein absolutes Tabu geworden, und es wird gleichgesetzt mit Faulheit.

Um dennoch einen Zustand des gefühlten Nichtstuns zu erreichen, kann beispielsweise stundenlanges Reiszählen helfen: Es wird zum Ritual, das zu einer Art Trance und bei jedem einzelnen zu neuen Erkenntnissen führen kann. Dabei ist wichtig, dass die Aufgabe eine gewisse Zeit dauert, denn nur so durchlaufen wir verschiedene Bewusstseinszustände. Dann spüren wir die Gegenwart, und in der Gegenwart spielt Zeit plötzlich keine Rolle mehr.

Die Zeit kann man in drei verschiedene Kategorien aufteilen: Es gibt die technische Zeit, die wissenschaftlich begründet ist. Dann die formelle Zeit, die mit der ablesbaren Uhrzeit gleichzusetzen ist. Dazu kommt die informelle Zeit, wie sie jeder individuell empfindet. Kreieren Sie mit Ihrer Arbeit einen neuen Zeitbegriff, eine «Kunst-Zeit»?

Das ist eine schöne Idee! Wer zu mir an eine Performance kommt, erlebt die Zeit neu. Denn ich gebe meinen Besuchern ein Versprechen: Sie können Stunden frei von weltlicher Ablenkung verbringen – ohne Telefon, ohne Kamera, ohne Fernsehen. So sind sie nah am Erleben, können die Zeit an sich und gleichzeitig sich selbst bewusst spüren.

Man könnte diese Art von Zeitvertreib durchaus «Kunst-Zeit» nennen. Mein Angebot ist, in diesen Stunden einzigartige Erfahrungen zu machen. Wem das nichts sagt, der kann ja wieder gehen, das ist auch okay. Welche Erkenntnisse man mit in den Alltag nimmt, ist jedem selbst überlassen.

Versteht diese «Kunst-Zeit» auch jeder?

Die meisten Menschen auf unserem Planeten sind keine Künstler, und trotzdem sollen sie meine Arbeit verstehen. Die Aufgabe von Künstlern ist es, etwas bewusst zu machen, etwas vor Augen zu führen. Alles, was wir Künstler den Menschen vorleben, können diese auf ihre eigene Weise in ihrem Alltagsleben anwenden – und dabei ist es egal, ob jemand Bauer, Wissenschaftler oder Student ist.

Video
Marina Abramovic: The Artist Is Present (USA 2012)
Aus Box Office vom 25.10.2012.
abspielen. Laufzeit 58 Sekunden.

In Ihrer Performance «The Artist is Present» im Museum of Modern Art in New York 2010 sassen Sie 721 Stunden bewegungslos vis-à-vis von Besuchern der Ausstellung. Wie erfuhren Sie selbst bei dieser Performance Zeit?

In diesem Experiment war ich starken körperlichen Strapazen ausgesetzt. Mit jedem, der mir gegenüber sass, geriet ich in eine Art von nonverbaler Kommunikation, die zusätzlich viel Energie kostete. In diesem Bewusstseinszustand existierte Zeit nicht, Zeit spielte keine Rolle mehr. Ich spürte Klarheit, einen perfekten Zustand von Balance. Dieses Gefühl möchte ich mit meinen Performances vermitteln, aber auch die Leute dazu bewegen, mit eigenen Übungen solche Zustände zu erreichen.

Joseph Beuys wollte mit seiner Kunst die Gesellschaft verändern. Ist es auch Ihr Ziel, mit ihren Performances die Gesellschaft zu verändern?

Video
Abramovic über die körperlichen Auswirkungen ihrer Performances.
Aus Kultur Extras vom 14.05.2014.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 13 Sekunden.

Beuys versuchte es – und scheiterte. Ich denke, das schaffen Künstler einfach nicht. Kunst kann den Menschen ihr Bewusstsein öffnen, was diese wiederum in ihre Handlungen übertragen können. Menschen müssen sich heutzutage mit so vielen Problemen rumschlagen, da möchte ich als Künstlerin ein kleines Stückchen Klarheit hineinbringen. Wenn ich dies bei zwei, drei Personen erreiche, dann bin ich bereits mehr als glücklich.

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