Der Fotograf Espen Eichhöfer fotografiert in Berlin eine Frau, die im Leopardenmantel die Strasse überquert. Das Bild wird in einer Galerie ausgestellt. Die abgebildete Frau sieht ihre Persönlichkeitsrechte verletzt und klagt gegen den Fotografen und die Galerie: 4500 Euro Schmerzensgeld will sie. Das Landgericht Berlin lehnte im vergangenen Sommer die Schmerzensgeldforderung ab, urteilte jedoch, dass die Persönlichkeitsrechte der Frau verletzt wurden.
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Der Fotograf Eichhöfer will dieses Urteil nicht akzeptieren und geht jetzt in Berufung. Er fürchtet, dass das Urteil ein Präzedenzfall werde, «der das Fotografieren auf der Strasse kriminalisiert», wie er in einem Artikel schreibt.
Er sieht eine ganze Kunstrichtung in Gefahr: die Strassenfotografie. Werke in der Tradition grosser Fotografen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Frank wären Eichhöfer zufolge durch diese Gesetzesauslegung in Deutschland nicht mehr möglich.
Ein Fall, der Grundsatzfragen aufwirft
Tatsächlich wirft der Fall grundlegende Fragen auf: Was ist höher zu werten – das Persönlichkeitsrecht oder die Kunstfreiheit? Und wenn man Eichhöfers Standpunkt folgt: Was ist an der Strassenfotografie so wichtig, dass die Frau im Leopardenmantel auf ihre Persönlichkeitsrechte verzichten muss?
Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, kann Eichhöfers grosse Sorge um die Strassenfotografie durchaus nachvollziehen. Für ihn stellt sie ein zentrales Element der Fotografie dar: «Das Erfassen von Räumen, von Zeitmomenten, die viel mehr enthalten, als wir rational erfassen können, ist etwas genuin Fotografisches. Wenn wir das nicht mehr zulassen, verliert die Fotografie eines ihrer entscheidenden Merkmale.»
Und das gilt nicht nur für die bekannten historischen Bilder, die uns eine Zeit erleben lassen, die längst vergangen ist. Auch die zeitgenössische Strassenfotografie kann aus einzelnen Momenten eine universale Bedeutung herausholen, die weit über das abgebildete Ereignis hinausgeht. Pfrunder spricht von «eingefrorenen Momenten, die ein ganzes Universum, eine ganze Epoche enthalten».
Die Strassenfotografie braucht den Zufall
Für diese Art der Fotografie ist das Zufällige entscheidend. Oftmals entdeckt der Fotograf erst später, was er mit seiner Kamera eingefangen hat, sagt Pfrunder. In den meisten Fällen sei es nicht möglich, alle fotografierten Personen um Erlaubnis für eine Veröffentlichung zu bitten. Deshalb sei es unumgänglich, Personen auch ohne ihre Zustimmung zu fotografieren.
Die Klage gegen Eichhöfer ist für Pfrunder zwar verständlich, aber übertrieben: «Wir leben in einer Zeit, in der sich Privates und Öffentliches vermischen. Immer wieder gelangen private Fotos an die Öffentlichkeit.» Das Recht am eigenen Bild schützen zu wollen sei deshalb nachvollziehbar. Nicht verständlich ist für Pfrunder hingegen die Radikalität, mit der dieses Recht zuweilen verteidigt werde.
Grössere Radikalität?
Neu ist der Konflikt zwischen Kunst und Privatsphäre keineswegs. Pfrunder nennt als Beispiel den Schweizer Fotografen Gotthard Schuh, der in den 1950er-Jahren eine ganz ähnliche Situation erlebt hatte: Schuh hatte in einem Park ein Liebespaar fotografiert. Das Bild musste auf Verlangen des abgebildeten Mannes aus einer Ausstellung entfernt werden. Denn Schuh hatte den Mann nicht mit seiner Gattin sondern seiner Geliebten ertappt. Das Bild wurde abgehängt – Schmerzensgeld wurde nicht gefordert.