Dass Gerhard Richter bald 82 Jahre alt wird, sieht man ihm nicht an. Mit federndem Schritt durchquert der Herr mit den buschigen Augenbrauen seine neue Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur. Dicht auf den Fersen folgt ihm eine knipsende Menge von Fotografen.
Gerhard Richter ist nicht nur einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, sondern auch einer der bekanntesten. Regelmässig werden seine Arbeiten in grossen Retrospektiven gezeigt: Die letzte hiess «Panorama» und tourte 2012 durch Europa, die nächste wird im Mai in der Fondation Beyeler bei Basel eröffnet.
Und nachdem Richters Bild vom Mailänder Domplatz («Domplatz, Mailand») letzten Frühling für 29 Millionen Euro versteigert wurde, war er kurze Zeit der teuerste lebende Künstler. «Je teurer meine Bilder sind, desto mehr Fotografen kommen zu den Ausstellungseröffnungen», sagt Richter. Und gibt ohne Umschweife zu, dass ihn die hohen Preise seiner Bilder anwidern, ihm andererseits aber auch schmeicheln.
Streifenbilder dehnen den Ausstellungsraum aus
Die neuen Werke, die Gerhard Richter nun in Winterthur zeigt, sind abstrakt. An den Wänden hängt eine grosse Gruppe der sogenannten «Strips». Diese Streifenbilder üben auf Betrachter eine verheerende Wirkung aus: Wer zu lange in die Tausenden von farbigen Streifen blickt, dem wird schwindlig. Und in einer Länge von bis zu zehn Metern dehnen diese Streifenbilder die Räume, in denen sie hängen, gegen jede physikalische Wahrscheinlichkeit aus – so, als wären die Winterthurer Ausstellungsräume Gummibänder.
Diese Bilder entstanden in einem komplexen Recycling-Verfahren: Ein bestehendes Richterbild wurde halbiert, geviertelt, geachtelt usw., in immer schmalere Streifen zerlegt, die wiederum digital gespiegelt, geschnitten, wiederholt wurden. Am Ende bedeckten tausende dünner Längsstreifen die Oberfläche der Digitalprints.
Abstrakte Lackbilder bewahren das Flüchtige
Eine weitere Werkgruppe in der Winterthurer Ausstellung sind Lackbilder. Wilde Farbkombinationen treffen in Wolken aufeinander, bilden Strukturen, Fliessbewegungen. Diese Bilder sind von einer berückenden Schönheit und intensiven Farbigkeit, stellen nichts dar und sehen doch aus wie Natur. Auch hier ist der Herstellungsprozess erwähnenswert, denn Richter konserviert die diversen Farbmischungen, die auf einem Träger entstehen mittels Abdruck auf einer Glasplatte. Und erst die Platte wird ausgestellt.
Das Festhalten und Fixieren eines flüchtigen visuellen Eindrucks ist eines der Merkmale von Richters Arbeit. Er wolle die Dinge «haben», und der Vergänglichkeit etwas entgegensetzen, sagt der Künstler.
Spiegeleffekte und Erkenntnistheorie
Die beiden ausgestellten Werkgruppen der Lack- und Streifenbilder spiegeln sich in grossen Glasinstallationen, die Gerhard Richter in die Ausstellungsräume setzte. Es sind filigrane Gebilde oder Bauten, die an ein Spiegelkabinett oder eine Glashütte erinnern, und im prekären Gleichgewicht der aneinandergelehnten Wände jederzeit einzubrechen drohen. Die abstrakten Bilder an den Wänden vervielfältigen sich über Spiegelungen in diesen Glaswänden, werden in den Raum geworfen. Oder sie setzen sich in einer langen Reihe bis in die Unendlichkeit gespiegelt fort.
Die Reflexionen stellen die Frage nach dem Status des Gesehenen: Sind diese Spiegelungen real oder eine optische Illusion? Und ist das, was wir da hinter Glas oder über Glas wahrnehmen, überhaupt zu verstehen? Diese erkenntnistheoretischen Grundsatzfragen werfe Richters Werk immer wieder auf, sagt der Winterthurer Museumsdirektor Dieter Schwarz. Und Schwarz muss es wissen. Denn er ist einer der wenigen Theoretiker, denen Gerhard Richter gerne zuhört, wenn sie sein Werk erklären.
Coup in Winterthur
Dass Gerhard Richter seine neusten Werke nun im Kunstmuseum Winterthur zeigt, ist kein Zufall. Dieter Schwarz und Gerhard Richter pflegen seit Jahren intensiven Kontakt. 1999 war in Winterthur eine Ausstellung über Richters Arbeiten auf Papier zu sehen. Die Winterthurer Sammlung an Zeichnungen und Grafiken wächst beständig, eben erst hat der Künstler dem Haus ein neues Konvolut geschenkt. Auch diese Arbeiten auf Papier sind nun in einer sehenswerten Ausstellung zu entdecken.