Warmes, sattgelbes Licht erfüllt den kleinen Raum und ein zarter Seifenduft liegt in der Luft. Die Installation «Bernsteinzimmer» von Ingeborg Lüscher rekonstruiert den sagenumwobenen, im Zweiten Weltkrieg verschollenen Raum in Originalgrösse. Bloss hat die Künstlerin für den Nachbau keine Edelsteine, sondern alltägliches Material verwendet: 9000 Seifenstücke.
Konzentration auf Kiesel und Flechten
Diese Arbeit ist typisch für das Schaffen von Ingeborg Lüscher, die dieses Jahr ihren 80. Geburtstag feiert. Denn sie geht von etwas Alltäglichem aus, dem ein Zauber innewohnt. Man muss bloss den Kopf und die Augen haben, diesen Zauber zu entdecken. Ingeborg Lüscher hat das immer wieder getan und tut es bis heute. Etwa in «Herzwerdung» aus dem Jahr 1975, einer Arbeit, die eine Sammlung von Flusskieseln pseudowissenschaftlich in Schaukästen präsentiert. Oder in ihrer Fotoserien über Flechten mit dem Titel «300 Millionen Jahre» (2014). Die Pflanzen in Nahaufnahmen wirken wie malerische Gebilde. Oder ist das schlicht Natur? Klar wird: Wer genau hinschaut, hat mehr vom Leben.
Das Eigenartige im Alltäglichen
Ingeborg Lüscher ist eine Spezialistin, wenn es darum geht, genau hinzuschauen und etwas Eigenartiges im Alltäglichen zu entdecken. Das brachte ihrer Kunst auch schon den Vorwurf ein, etwas harmlos und egozentrisch stets um die eigene Wahrnehmung zu kreisen. In Solothurn ist zu sehen, dass das in einigen Fällen zutrifft, aber nicht oft.
Neben der berühmten Dokumentation über den Einsiedler Armand Schulthess sticht in der Solothurner Retrospektive über Ingeborg Lüschers Werk die Videoarbeit «Die andere Seite» heraus. Diese Arbeit ist ebenso schamlos wie voyeuristisch und direkt. Und berührend komplex. Die Witwe des Schweizer Kurators Harald Szeemann befragte für das Video von 2009 bis 2011 Frauen und Männer, Israelis und Palästinenser. Alle trauern sie: um Söhne und Töchter, Partner, Brüder und Schwestern, die im Konflikt starben.
Sprache der Mimik
Lüscher konfrontiert ihre Interviewpartner mit Fragen: zur eigenen Identität, zum erlebten Verlust – und: ob sie vergeben können. Kein Ton ist zu hören, kaum eine Antwort eindeutig. Die Betrachter müssen in den Gesichtern lesen, die sich je nach Frage verändern: hart werden, weich, um Fassung ringen. Münder verziehen sich, Lippen werden gebissen, Tränen vergossen.
«Die andere Seite» liefert keine Analyse des komplizierten Konflikts. Aber die Arbeit lässt die Betrachter emotional Anteil nehmen, ohne süss und versöhnlich zu werden. Denn Erlösung wird nicht gegeben. Keiner der Befragten drückt Vergebung aus. Oder etwa doch? Hinschauen mit Ingeborg Lüscher.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 18.5.2016, 17:06 Uhr.