Es sieht aus wie ein ganz natürlicher Stein. Es ist auch ein Stein. Ein Granit, um genau zu sein. Nur eines ist er nicht: ganz natürlich.
Denn der Granitbrocken, der im Ausstellungsraum liegt, so kantig und schroff, als sei er direkt aus einer Felswand herausgebrochen, verdankt seine wild wirkende Form sorgfältiger Fräsarbeit.
An einigen Stellen wird dies auch sichtbar: Da hat die Künstlerin den Fräsprozess stoppen lassen, so dass noch etwas von der glatten Quaderform zu sehen ist, die diesem Granitstück einmal zu eigen war.
Ein Stein tut so, als wäre er der andere
Alicja Kwade treibt mit ihrer Arbeit «Gegebenenfalls die Wirklichkeit» ein hoch komplexes und raffiniertes Spiel mit unserer Definition von Wirklichkeit. Am Anfang der Installation stand ein roher Granitbrocken. Nicht der, den man in der Ausstellung sieht. Ein anderer Brocken, aber das gleiche Material.
Die Künstlerin hat diesen Brocken in einem 3D-Scan-Verfahren ausmessen und die so gewonnenen Daten an eine Fräsmaschine übermitteln lassen. Diese Fräsmaschine hat dann aus einem zweiten Granitstück die Form des ersten Stücks geschnitten.
Salopp formuliert könnte man sagen: Der zweite Stein tut so, als ob er der erste wäre. Aber: Ist er es auch?
30'000 Seiten beantworten nicht alle Fragen
Neben dem Stein gibt es eine Menge Papier im Raum. Es sind Ausdrucke der Scan-Daten, also mit den Koordinaten zur Topografie des Objektes. 30'000 Ausdrucke sind es insgesamt, 2000 hängen an den Wänden. Die restlichen lagern in kupfernen Behältern, sogenannten Time-Capsules.
Was sagen diese Ausdrucke über den Stein? Sagen sie überhaupt etwas über ihn, seine Form, sein Material? Das sind Fragen, die Alicja Kwade interessieren. Was kann ich über ein Objekt wissen? Was macht mich in meinem Wissen so sicher? Und was geschieht mit meinem Wissen, wenn sich das Objekt verändert?
Die Antworten der Kirche genügten ihr nicht
Alicja Kwade ist 1979 im polnischen Kattowitz geboren. Sie begann schon als Kind, sich zu fragen, was die Welt sei und was man darüber wissen könne. Die Antworten, die die in Polen allgegenwärtige christliche Lehre katholischer Prägung auf solche Fragen bereithielt, fand sie wenig inspirierend.
Im Alter von acht Jahren kam Kwade mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie machte in Hannover ihr Abitur und ging dann nach Berlin, um an der Universität der Künste zu studieren. Im Studium war schnell klar: Die klassische Konzeptkunst ist ihr Ausdrucksmedium.
Klingt abstrakt, wirkt fabelhaft
Alicja Kwade geht es nicht um interessante Oberflächen oder die Raumwirkung von Objekten. Ihr an philosophischen und mathematischen Schriften geschultes Denken geht einen Schritt weiter. Sie fragt danach, was wir eigentlich über die Welt, in der wir stehen, wissen. Und wie wir zu diesem Wissen gelangen.
Das klingt furchtbar abstrakt. Sieht aber in der Praxis fabelhaft aus. «LinienLand» zum Beispiel, die Installation, die der Zürcher Schau ihren Namen gegeben hat, besteht aus einem schwarzen Gitternetz aus Stahl. In diesem scheinen verschiedenfarbige, zu Kugeln geschliffene Steine wie Seifenblasen zu schweben.
Unser Universum ist auch nur eine Version
Diese Installation sieht aus, wie das Planetenmodell eines unbekannten Universums. Das ist ein wichtiger Aspekt bei Alicja Kwade, der auch in dieser Arbeit drinsteckt: die Idee des Multiversums.
Diese Idee wird seit der Antike in Physik und Philosophie diskutiert: Es könnte sein, dass unser Universum von anderen Universen umgeben ist. Es könnte also sein, dass wir nicht die Einzigartigkeit haben, auf die die christliche Schöpfungsgeschichte pocht. Sondern dass unser Universum eines von vielen Universen ist. Eine Version von vielen.