Tomi Ungerer, der Heimatlose: Geboren ist er im Elsass, das in seiner Kindheit und Jugend mal deutsch, dann wieder französisch war. Dort hat er früh gelernt, dass Staatszugehörigkeit relativ ist. Heimat hat er Zeit seines Lebens vielerorts gesucht: in Algerien, den USA, in Irland, wo er heute mehrheitlich lebt.
Der rastlose Wanderer
«Ich bin ein Wanderer», sagt Ungerer gerne. Da ist es kein Zufall, dass die Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit einer bekannten Zeichnung beginnt, einer Skizze zu seinem berühmten deutschen Liederbuch. Sie heisst «Des Wandern ist des Müllers Lust» von 1971: Keck und forschen Schrittes bricht der Wanderer auf.
Der Wanderer ist in der Ausstellung ebenso Sinnbild für Ungerer wie für sein immenses künstlerisches Schaffen: Ungerer, der Wanderer zwischen Stilen, Genres und Künstlerhaltungen. Sich künstlerisch auszudrücken ist für den Rastlosen existenziell: «Das Zeichnen, das Schreiben und die Skulpturen – das muss einfach raus», sagt er. Sonst würde er wohl verrückt.
Kaum bekannte Collagen
Dem Verrücktwerden arbeitet er produktiv entgegen – seinem Werk können auch heute noch unbekannte Seiten abgewonnen werden. Deswegen hat die Kuratorin Cathérine Hug in Absprache mit dem Künstler die Ausstellung «Incognito» genannt. Nicht Ungerer ist dabei der Unbekannte, sondern Aspekte seines Werks.
Einer grösseren Öffentlichkeit kaum bekannt sind vor allem Ungerers Collagen. Als Material dienten ihm Zeitschriften, Fundgegenstände und Fotokopien. Da entpuppt sich das Gefieder eines stolzen Vogels erst auf den zweiten Blick als drapierte Handschuhe, da säumen Frauenbeine in High Heels wie Bäume eine Strasse, die ein Einbeiniger entlanghumpelt.
Tiefschwarze Vision der Zukunft
Man kann die Collagen als Spielereien verstehen. Meist jedoch greift das zu kurz. Sie lassen mehr als eine Interpretation zu. Diese Mehrdeutigkeit ist ganz im Sinne des Künstlers, der sich gegen einfache Aussagen wehrt. Provokation diente ihm schon immer als Lebenselixier.
Und als Mittel zur Gesellschaftskritik. In der Collage «Great Expectations» von 2009 etwa wird der Kinderwagen zum gefährlichen Raubtierrachen, der die Erwartungshaltung des Niedlichen unterläuft. Er sei kein Prophet, sondern Realist, betont Ungerer an der Medienpräsentation in Zürich. Seine Vision der Zukunft sei tiefschwarz.
Immer wieder geht es um die Nazi-Zeit
Beitrag zum Thema
Ungerers bildgewordenen Kommentaren zur heutigen Gesellschaft räumt die Ausstellung «Incognito» viel Platz ein. Ein zentrales Anliegen von Kuratorin Cathérine Hug war es aufzuzeigen, dass Ungerer in seiner Kunst nicht nur über sich selbst spricht, sondern auch über die Gegenwart. Diesen Anspruch löst die Ausstellung ein. Auch gerade ältere Arbeiten lassen sich zum Beispiel mühelos als Kommentar zur Flüchtlingskrise lesen.
Auffallend oft thematisiert Ungerer die Nazi-Zeit, die er im Elsass miterlebt hat. Hitler bekommt von ihm einen Totenschädel aufgeklebt, Erdmännchen stehen stramm unter einem Hakenkreuz.
Bei allem verliert Ungerer seinen charakteristischen Humor nie aus den Augen. Auch in seinen Objekten, die er meist aus Fundgegenständen gestaltet: Ein Velo-Gepäckträger wird zum Hund, oder ein Teddybär legt aufgeschlitzt seine inneren Organe frei. – Neue Einsichten in vermeintlich Bekanntes: Das vermittelt die Ausstellung «Incognito» im besten Sinne.