Kurz vor Schluss dieser an heftigen Debatten nicht armen Documenta krachte es noch einmal. Ein Expertengremium sollte sämtliche Werke der Ausstellung auf mögliche antisemitische Inhalte überprüfen.
Die Fachleute wurden fündig: Eine Reihe von Agitprop-Filmen aus dem palästinensischen Widerstand der 1960er-Jahre, bekannt als «Tokyo Reels», zeigte unkommentiert Szenen, in denen die israelische Armee mit der Wehrmacht gleichgesetzt, Hass gegen den Staat Israel geäussert und zum Töten von Israelis aufgerufen wird.
Das Gremium beliess es nicht bei einer öffentlichen Forderung an die Documenta-Kuratoren Ruangrupa, diese Filme mit Erläuterungen zu versehen und sich von den Inhalten zu distanzieren.
Einige Gremien-Mitglieder schoben einen Generalverdacht nach: Ruangrupa und die ganze Documenta seien allgemein anfällig für antisemitische Propaganda. Ruangrupa antwortete bissig. Diese Documenta und die deutsche Debattenkultur, sie werden nicht mehr zusammenfinden.
Braucht es eine Gesinnungsprüfung?
Die Frage ist, was daraus folgt. Wird die Ausstellungsreihe fortgesetzt? Manche Stimmen hielten das zuletzt für unzumutbar. Andere – wie die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth – plädierten für bessere politische Kontrolle der Documenta.
Man mag sich kaum vorstellen, wie diese politische Kontrolle dann aussähe. Kuratoren, die einer Gesinnungsprüfung unterzogen werden? Ein Expertinnengremium, das vorab alle Werke und teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler auf politische Korrektheit kontrolliert? Undenkbar.
Einen Präzedenzfall geschaffen
Muss die Documenta also neu erfunden werden, um weiterzuleben? Oder entspricht die Empörung nur den üblichen Mustern inszenierter Scheindebatten und wird folgenlos verpuffen?
Nein, die Documenta fifteen hat einen Präzedenzfall geschaffen. Keine künftige Documenta-Leitung wird sich einem solchen Fegefeuer der Verurteilungen und Vorwürfen aussetzen wollen, wie es Ruangrupa und documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann erlebt haben. Sie werden auch ohne offizielle politische Kontrolle vorsichtiger sein.
Das für diese Kasseler Schau so revolutionäre System – kuratorische Verantwortung zu delegieren und Budgets nach eigenem Ermessen der Eingeladenen zu verteilen – wird kaum noch einmal auf einer Documenta Anwendung finden.
Nicht alles war schlecht
Das muss nicht zum Schaden der Ausstellung sein. Unkommentierte Propaganda und antisemitischen Klischees waren ein Tiefpunkt in der Geschichte der Documenta, weil sie dazu beigetragen haben, die an sich wertvollen Anliegen dieser Schau zu diskreditieren und Gegnerinnen und Gegnern offener Diskurse Vorwände zu liefern, diese an die Wand zu fahren.
Wertvoll war der kuratorische Ansatz dieser Documenta, weil er eng mit kultureller Alltagspraxis verbunden war. Die diesjährige Documenta hat die Hierarchien des westlichen Kunstmarktes, seine auf männliche Cliquen gestützten Geldverteilungs- und Belohnungssysteme durchkreuzt, Wissenspolitik für Kinder und Familien integriert und nicht zuletzt eine klimaneutrale Ausstellungspraxis vorgelebt.
Das alles zeigt: Es gibt auch ein Erbe dieser Documenta, das sich weiterzuentwickeln lohnt.