Mit Böllern und Raketen beginnt Julian Rosefeldts Film. Das passt, denn: Manifeste waren explosive Dinger. Richtige Textbomben, die in die Luft zu jagen wünschten, was war, und eine neue Kunst für eine neue Zeit skizzierten.
Erfolgsgeschichte einer Textsorte
In Anlehnung an das Kommunistische Manifest, das Marx und Engels 1848 veröffentlichten, hofften auch Künstler von der Kraft solcher Streitschriften zu profitieren.
Marinetti veröffentlichte 1909 als erster sein futuristisches Manifest auf der Frontseite des «Figaro». Viele Künstler entdeckten daraufhin diese Form des öffentlichen Programms.
Kaum eine der heute klassischen Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt ohne Manifest aus: vom Suprematismus über den Konstruktivismus bis zum Dadaismus, und weiter vom Minimalismus bis zum Situationismus.
Poetisches Best-Of
Alle richten sie sich gegen die Gegenwart und fordern eine Kunst, die näher am Leben ist und weniger verlogen.
Der deutsche Künstler Julian Rosefeldt hat für seinen Kinofilm ein poetisches Best-Of dieser aufrührerischen Texte zusammencollagiert und 13 Filmszenen entworfen, jede mit Cate Blanchett in der Hauptrolle.
Hausfrau, Obdachloser, Maklerin
Als Obdachloser schleppt sie ihre Habseligkeiten über das Gelände einer aufgegebenen Fabrik und schreit die situationistischen Texte eines Guy Debord in die leeren Flächen.
Als Börsenhändlerin verzockt sie kaugummikauend unsere Altersvorsorge während im Off Marinettis futuristisches Manifest die Geschwindigkeit, den Krieg und die Gefahr bejubelt.
Als biedere Hausfrau spricht Blanchett ein endloses Tischgebet. Es ist Claes Oldenburgs Manifest für die Pop Art. Die Familie wartet währenddessen mit tropfendem Speichel darauf, dass der Truthahn auf dem Tisch angeschnitten wird.
Cate Blanchetts Verwandlungskunst
Blanchett tritt in «Manifesto» nicht als Oldenburg oder Marinetti auf, sondern spielt mit chamäleonhafter Meisterschaft unterschiedliche Frauen aus unserer Gegenwart: eine Arbeiterin, eine Galeristin, eine Trauerrednerin, eine Nachrichtensprecherin.
Diese Figuren aus dem Heute machen die historischen Kunstmanifeste neu wahrnehmbar: «Sie befreien sie vom kunsthistorischen Ballast», so Julian Rosefeldt.
Die Filmszenen unterlaufen die historischen Manifesttexte ironisch oder setzen ihnen etwas Rätselhaftes entgegen.
Die Aktualität spürbar machen
«Manifesto» ist also keinesfalls eine trockene Lektion in Kunstgeschichte. Julian Rosefeldt will die Poesie und die Aktualität historischer Manifeste freilegen.
Er hat das 2015 zuerst in einer Kunstinstallation getan, mit 13 kurzen Filmen. Nun hat er die Installation zum Kinofilm umgearbeitet. Am Kern der Sache ändert sich nichts.
Vergangene Form mit heutiger Relevanz
Heutige Künstlerinnen und Künstler schreiben keine Manifeste mehr, es gibt andere Formen und Kommunikationskanäle, um Ideen und Überlegungen zu verbreiten. Dennoch sind Manifeste nicht von gestern.
Julian Rosefeldt beobachtet in Zeiten des politischen Populismus ein Revival: «Es gibt auf jeden Fall den Wunsch, auf dumme populistische Phrasen mit klugen, eingängigen Sätzen zu antworten.» Und die sind in Kunstmanifesten zuhauf zu finden.
Das Manifest ist immer eine öffentlichkeitswirksame Streitschrift gegen die Gegenwart – und als solche auch heute mit Gewinn zu lesen bzw. neu im Kino wahrzunehmen. Wer allerdings eine herkömmliche Geschichte sucht, der ist bei «Manifesto» buchstäblich im falschen Film.