Es ist der Hosenanzug, den Jil Sander für ihr Design zu einer Ikone gemacht hat. Er ist ihr Abschlussstück der allerersten eigenen Kollektion 1974.
«Normalerweise kommt am Ende einer solchen Laufstegpräsentation immer ein Brautkleid», sagt Autorin und Modejournalistin Maria Wiesner, die in ihrem Buch «Jil Sander. Eine Annäherung» die Karriere der Modeschöpferin nachzeichnet. «Doch sie entwirft einen Hosenanzug völlig anders als sonst: keine Schulterpolster, kein Angleichen an männliche Silhouetten.»
Oft verbindet man den Hosenanzug für die Frau mit dem französischen Modemacher Yves Saint Laurent. Er hat ihn jedoch in einem männlichen Schnitt belassen. Jil Sander schneidert ihn dem weiblichen Körper auf den Leib.
Cool, klassisch – und feminin
Dieser Hosenanzug verändert die Welt der Frauenmode wie ein Meteoriteneinschlag. Er zeigt bereits, was Jil Sanders Modedesign ausmachen wird: schlichte Schnitte ohne Rüschen oder sonstige Verzierungen. Cool, klassisch, modern.
Und vor allem feminin: Mann und Frau zu kombinieren, habe sie in ihrer Arbeit interessiert. Dies sagt Jil Sander in einem ihrer seltenen Interviews, das sie 2004 der Filmemacherin Nicola Graef für eine NDR-Fernsehdokumentation gegeben hat: «Es ist eigentlich ein wunderbarer Zusammenschluss, wenn Frauen nicht vergessen, dass sie auch diese femininen, starken Seiten haben.»
Die Erfinderin des Zwiebellooks
Jil Sander gilt als Wegbereiterin der Mode für die selbstbewusste, berufstätige Frau. «Alle sagen immer, meine Mode sei sehr emanzipiert gewesen», sagt Jil Sander und rückt im Film dieses Lob zurecht. «Das liegt vielleicht einfach daran, dass ich gleichzeitig anfing zu arbeiten, als auch die Berufstätigkeit der Frauen anfing.»
Feminin ist Jil Sanders Mode von Anfang an. Und funktional: Sie gilt als Erfinderin des sogenannten Zwiebellooks – der Möglichkeit, Einzelteile untereinander zu kombinieren, auch aus verschiedenen Kollektionen.
Jil Sander wird als Heidemarie Jiline Sander am 27. November 1943 im Luftwaffenlazarett von Hedwigenkoog bei Hamburg geboren. Sie hat einen älteren Bruder und einen jüngeren Halbbruder, mit dem sie später samt Mutter und Stiefvater in Hamburg aufwächst.
Norddeutschland habe sie geprägt, sagt Buchautorin Maria Wiesner. «In dieser Ecke muss was ganz Fruchtbares sein», ist sie überzeugt. Schliesslich stammte auch Modedesigner Karl Lagerfeld von dort. «Dieses Nordische, Kühle, sehr Klare und vielleicht auch ein bisschen Protestantische trägt schon etwas zum Stil bei, wenn man dort aufwächst.» Das Protestantische spiegele sich in Jil Sanders klaren, strengen Schnitten.
Anknüpfen an Bauhaus-Ideen
Eine Designausbildung macht Jil Sander nie. Erst einmal studiert sie Textilingenieurin in Krefeld, wird Entwicklerin von neuen Stoffen. An dieser Hochschule kommt sie in Berührung mit dem Bauhaus und seiner Gestaltungsphilosophie.
«Das prägt sie massgeblich», sagt Maria Wiesner. Bauhaus-Schüler und -Lehrkräfte aus Weimar und Dessau seien nach dem Zweiten Weltkrieg nach Krefeld gegangen, um dort zu unterrichten.
«Jil Sander fand in diesen Bauhaus-Ideen Anknüpfungspunkte an ihr eigenes ästhetisches Empfinden.» Die Bauhaus-Philosophie stellte den Menschen in den Mittelpunkt. Form solle einer Funktion folgen und auf Ornamente verzichten. Die Ästhetik solle aufs Wesentliche reduziert werden und eine Schönheit schaffen, die die Zeiten überdauern könne. «Genau das hat Jil Sander in ihrer Mode auch umgesetzt.»
Erste Arbeiten für Modemagazine
Als Jil Sander ihre Ausbildung abschliesst, ist sie 18 Jahre alt. Gegen den Willen ihrer Mutter und ihres Stiefvaters geht sie in die USA, studiert kurz Geschichte, Englisch und Design in Los Angeles und wechselt dann nach New York zu Modezeitschriften als Redaktorin. Als ihr geliebter Stiefvater überraschend stirbt, kehrt sie 1963 zurück nach Hamburg.
Dort arbeitet sie bei den Modezeitschriften «Petra» und «Constanze». Sie ist unter anderem für die Modestrecken und das Styling zuständig. «Dabei stellt sie fest, dass die Mode ihrem strengen Ästhetikempfinden nicht entspricht», erzählt Maria Wiesner. «Also greift sie zum Telefonhörer und ruft bei den Firmen, die ihr die Kleider geschickt haben, an und fragt, ob sie diese nach ihren Wünschen ändern könnten.»
Das habe Jil Sander später in Interviews erzählt. «Und eines Tages hat sie beschlossen: Das kann ich doch eigentlich selber besser.»
Dies war Jil Sanders Wende zur Modedesignerin. Tatsächlich gilt Jil Sander als kompromisslose Ästhetin. «Wenn man proportionssüchtig ist, sucht man immer wieder neue Formen und neue Ausdrucksmöglichkeiten», sagt sie auch selbst im Film des NDR.
Die erste Boutique – in Schwarz
1967 verkauft sie als Autofan – auch da geht ihr Form über alles – ihr Fahrzeug, um mit dem Geld eine Boutique zu eröffnen. In einem edlen Hamburger Stadtteil mit mehrheitlich weissen Häusern ist ihr Laden schwarz angemalt.
Die Inspiration dazu habe sie in London gehabt, sagt Maria Wiesner: «Immer wieder hat sie betont, dass sie sehr angetan war von der Punkbewegung.» Das sei damals eine unglaublich kreative Modeavantgarde mit Musik gewesen. «Die Ästhetik von Vivienne Westwood, der Mutter des Modepunks, fand sie wahnsinnig spannend.»
Startschuss mit einem Flop
Jil Sander ist damals 24 Jahre alt. In ihrer Boutique verkauft sie, was ihr gefällt. 1968 kreiert sie dann eine erste Modekollektion. Doch diese wird ein Flop, sie zeigt sie nicht. Denn Jil Sander schwebt vor, gute Qualität anzubieten – auch für eine wenig kaufkräftige Klientel, wie zum Beispiel Studierende. Dazu lässt sie ihre Kleider in Indien produzieren.
Doch die Qualität entspricht nicht ihren Vorstellungen. «Sie beschliesst, diese ganze Kollektion einzustampfen und es noch einmal anders zu probieren.» Und zwar mit umgedrehten Vorzeichen: «Sie will die Qualität und Standards hoch ansetzen und dafür dann auch die Preise erhöhen, weil man das sonst nicht produzieren kann.»
Statt billig produzierte hochwertige Mode für viele also nun lokal produzierte teure Mode für wenige. Das ist Jil Sanders Konzept mit ihrer Marke «Jil Sander». Die damals avantgardistische Modedesignerin setzt zudem von Anfang an auf eine Beauty- und Parfümlinie. Das generiert schnell kommerziellen Erfolg.
Zeitlos modern
In der Mode setzt Jil Sanders Stil bald einmal Massstäbe: «Sie setzt auf monochrome Farben, kreiert schlichte schwarze Kleider und immer wieder auch weisse Röcke», erklärt Maria Wiesner. «Die Stücke fallen auf durch Schnitte oder durch die Handwerkskunst.»
Auch hier ist Jil Sander Avantgarde: «Selbst wenn es in den 1990er-Jahren viele Labels gab, die auf diesen Minimalismus-Zug aufgesprungen sind: Jil Sanders Qualität ist besser, ihr Design zeitloser», so Wiesner. «Ihre Sachen könnte man auch heute noch anziehen und sähe modern aus.»
1989 dann ein weiterer Meilenstein. Jil Sander bringt ihr Unternehmen an die Börse und wird damit in Deutschland die erste Frau an der Spitze eines börsenkotierten Unternehmens. Doch zehn Jahre später wird ihr das Ganze zu viel.
«Als ich anfing, selbstständig zu sein, dachte ich immer, das gibt mir eine unheimliche Selbstständigkeit», sagt Jil Sander 2004. «Aber am Ende muss man bald einmal feststellen, dass man doch nicht frei ist, weil man die Verantwortung trägt, wie einen Rucksack.»
Verkauf an den Mode-Riesen Prada
Sie verkauft 1999 ihr Unternehmen ans italienische Modeunternehmen Prada, welches das Unternehmen als Marke «Jil Sander» weiterführt. Als Jil Sander sich kurz darauf jedoch mit dem Prada-Chef überwirft, zieht sie sich aus dem Modedesign und ihrer Marke zurück.
Und die Privatperson Jil Sander? Über sie weiss man wenig. Bloss, dass sie mit ihrer Lebensgefährtin bis zu deren Tod 2014 in Hamburg gewohnt hat. «Sie hat einmal gesagt, dass sie gerne lese: Gedichte von Else Lasker-Schüler oder Bücher von Gabriel García Márquez», sagt Maria Wiesner.
Auch habe sie mit steigendem Erfolg ihres Unternehmens angefangen, Kunst zu sammeln und zu fördern. Zudem sei sie eine leidenschaftliche Gärtnerin und habe auf ihrem Gut nördlich von Hamburg einen grossen Garten angelegt. «Ansonsten weiss man tatsächlich über die Privatperson rein gar nichts.»
Leichtigkeit im Alter
Das Modedesign sein lassen kann Jil Sander jedoch bis heute nicht. Mal macht sie doch wieder eine Kollektion für ihre Marke, die seit 2021 vom italienischen Modekonzern OTB geführt wird. Oder sie entwirft erfolgreich für den japanischen Billigmodeanbieter Uniqlo.
Eine Auszeit sieht Jil Sander jedoch positiv: «Ich hoffe, dass ich mir diese Leichtigkeit erhalte, wie man Dinge sieht, wenn man mal zurücktritt», sagt sie im NDR-Beitrag von 2004. «Und mir scheint, dass man durch so eine Auszeit irgendwie erwachsener wird.»
Jetzt feiert sie ihren 80. Geburtstag. Ein guter Moment also, um tatsächlich erwachsen zu sein.