Fremdheit ist das Gefühl, das sich in der Ausstellung sogleich einstellt. Schon ganz praktisch bei der Frage, wie diese Bildergeschichten gelesen werden müssen. Stimmt ja, von rechts nach links.
In der aktuellen Ausstellung des Museums Rietberg sind viele Emaki zu sehen: Bildergeschichten auf Papier zum Ausrollen. Text und Bild immer abwechselnd. Die abgebildeten Szenen darauf bleiben aber unverständlich.
Ratlos vor Dämonen und Blutfontänen
Es bleibt, sich auf die schön gezeichneten Kimonos zu konzentrieren, auf die Kirschblüten und Kiefernäste. Auf die Wolken und Dunstschleier, die überall die einzelnen Szenen voneinander abtrennen.
Oder man macht sich auf die Suche nach Handfestem: nach Dämonen, abgeschlagenen Köpfen und Blutfontänen. Aber auch hier sprechen die Bildergeschichten nicht für sich. Wer die literarischen Grundlagen hinter den gezeigten Szenen nicht kennt, bleibt ratlos und muss sich an die Erläuterungstexte halten.
Das abwesende Motiv
Eingeweihte Betrachterinnen und Betrachter würden allerdings sofort erkennen, um welche Episoden aus welchen Geschichten es sich handelt.
«Die ersten Geschichten wurden schon im 11. Jahrhundert illustriert. Daraus entwickelte sich eine Art Standard-Ikonografie», erklärt Khanh Thrin, eine der Kuratorinnen. «Es gibt natürlich ganz viele Parodien. Doch auch diese haben einen ganz klaren Bezug zur klassischen Ikonografie.» Das ging sogar so weit, dass es für die Darstellung bestimmter Szenen nur noch ganz wenig Elemente brauchte, etwa Efeu- und Ahornblätter und einen Rucksack.
«Abwesendes Motiv» nenne sich diese ästhetische Strategie, erklärt Khanh Thrin. Weil sich für jedes Kapitel einer Geschichte eine Standard-Ikonografie mit elementaren Komponenten herausgebildet habe, könne man die Figuren weglassen. «Was zurückbleibt, sind nur noch die dekorativen Motive.»
Vielfalt der Materialien
Das wurde häufig bei Objekten gemacht, auf denen so auf Geschichten verwiesen wurde. Etwa auf kleinen Schatullen, Vasen oder gar auf einem Picknickkasten. Diese Vielfalt der Objekte macht die japanische Bildergeschichten-Kunst einzigartig.
«In fast allen Kulturen werden die berühmtesten Geschichten illustriert – etwa die Bibelszenen. Von daher ist die japanische narrative Kunst nicht einzigartig. Was sie aber einzigartig macht, ist die grosse Vielfalt der Materialien.»
Geringe Verwandtschaft zu Mangas
Hat diese narrative Tradition auch zur Entstehung des Mangas geführt? «Es wird sehr häufig der Anspruch erhoben, dass Mangas die Fortführung der traditionellen Malerei sind – was nicht ganz stimmt», sagt die Kuratorin Khanh Thrin. Denn Manga habe seine Ursprünge vor allem in den europäischen und US-amerikanischen Cartoons und Comics.
Wer sich in diese Frage vertiefen will, kann dies in einer ergänzenden kleinen Ausstellung zum Manga tun. Das Eintauchen in die Vielfalt und Fremdheit der über 100 Bilderrollen und Objekte im Museum Rietberg: anspruchsvoll, aber lohnenswert – wenn man sich drauf einlässt.