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Poesie des Wartens Das sind die bizarrsten Bushaltestellen der sowjetischen Provinz

Tauben, Muscheln oder römische Tempel: Das Warten auf den Bus war in der ehemaligen Sowjetunion ein architektonisches Erlebnis.

Die sowjetische Bevölkerung verbrachte einst viel Zeit mit dem Warten auf den Bus. Es gab nur wenige Autos, Individualverkehr war nicht erwünscht. Das ganze System stützte sich auf ein Busnetz, das das riesige Land bis in den hintersten Zipfel Sibiriens zugänglich machte.

Kleine Kunstwerke in der Provinz

Nicht alle Haltestellen waren etwas Besonderes, aber ein paar 1000 stachen heraus. Es waren experimentelle Fantasiegebäude, die an Ufos erinnerten, riesige Tiere, brutalistische Architekturträume, die die Landschaft prägten. In den Städten waren die Bushaltestellen normiert – die schrägsten Bus-Stops finden sich daher in der Provinz.

Bushaltestelle in der Form eines Huts mit blauer Krempe.
Legende: Experimentell: Balyktschy, Kirgistan. Christopher Herwig

Designt wurden sie von lokalen Architekten. Während im ganzen Land Plattenbauten im Standarddesign hochgezogen wurden und Individualität verpönt war, entstanden an den einsamen Provinzstrassen experimentelle Kunstwerke. Hier konnten sich die Architekten frei von jeglichen Parteivorgaben verwirklichen. Auch junge Künstler wurden eingeladen, sich auszuprobieren.

Kunstvoll – aber oft unnütz

Der aufstrebende georgische Künstler Surab Zereteli, der später Präsident der Russischen Akademie der Künste wurde, baute in den 1960er-Jahren neun Haltestellen am Schwarzen Meer in Abchasien: darunter ein Delfin, eine Welle, eine Muschel und ein Tintenfisch mit langen Tentakeln, besetzt mit bunten Mosaiksteinchen.

Bushaltestelle in form einer gelben abstrahierten Welle.
Legende: Brutalistisch: Kaunas, Litauen. Christopher Herwig

Ein Dach hatte das Meerestier jedoch nicht: Schutz vor Regen oder Schnee – Fehlanzeige. Surab Zereteli bestand darauf, Kunst zu machen. Ein Paradox in einem Staat, in dem Kunst vor allem nützlich sein sollte oder als mächtiges Instrument diente, um politische Botschaften zu übermitteln.

Kleine Rebellion im kontrollierten Staat

Wie war das möglich? Waren diese einzigartigen Designs ein Akt der Rebellion? Ein zaghafter Ruf nach Freiheit in einer Gesellschaft, in der alles kontrolliert wurde? Wie konnten sich die Bushaltestellen der Standardisierung entziehen?

Rot-gelb-schwarzes abstraktes Gebäude in einem kargen Feld.
Legende: Freigeistig: Scharyn-Nationalpark, Kasachstan. Christopher Herwig

Ein Grund war wohl, dass die Bushaltestellen als untergeordnete architektonische Form galten. Sie waren schlichtweg zu wenig wichtig und wurden darum nicht zentralistisch beaufsichtigt. Moskau war weit. Die Aufträge wurden lokal vergeben. Nicht selten war der Auftraggeber auch der Bauherr.

Plötzlich bedeutungslos

Die Ära der experimentellen Haltestellen endete mit dem Ende der Sowjetunion. Der Kapitalismus brachte Wohlstand. Heute fährt jeder im eigenen Auto und muss nicht mehr mitten im Nirgendwo an einer Bushaltestelle frieren.

Eine Bushaltestelle aus weissen Betonpfeilern neben einer Strasse mit einem gelben Auto.
Legende: Minimalistisch: Samarqand, Usbekistan. Christopher Herwig

Das Busnetz brach zusammen, die Haltestellen versanken in der Bedeutungslosigkeit. Heute fallen sie Wind und Wetter zum Opfer oder werden abgerissen, da sie gemäss dem Dekommunisierungs-Dekret zu den sozialistischen Symbolen gehören: Nichts soll heute in vielen ehemaligen sowjetischen Staaten mehr an die Zeit der Sowjetunion erinnern.

Streaminghinweis

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Der kanadische Fotograf Christopher Herwig dokumentierte die Schönheit der russischen Bushaltestellen in zwei erfolgreichen Büchern. Der Film « Soviet Bus Stops » (zu sehen auf Play SRF) folgt Herwig auf seinen Reisen von Litauen über Usbekistan, von Armenien bis Fernostsibirien.

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SRF 1, Sternstunde Kunst, 31.12.2023, 12:00 Uhr

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