Eine unschuldige Idylle: Ruhig steht das Mädchen da, der Blick konzentriert, die Haare sauber geflochten, die Wäsche dahinter strahlend weiss. Martheli, 11 Jahre alt, aus dem unteren Emmental.
Eingefangen hat das bescheidene Glück Walter Studer, 1954. Ein Jahrzehnt später, gleicher Fotograf, gänzlich andere Bildsprache: Walter Studer fotografiert für ein SBB-Werbeplakat eine Winterszene. Kühl, abstrakt, minimalistisch.
Diese Vielfalt ist typisch für Walter Studer. «Mein Vater war ein wahnsinniger Allrounder», sagt Peter Studer, sein Sohn. Er, von Beruf ebenfalls Fotograf, hat über Jahre eng mit seinem Vater zusammengearbeitet und verwaltet heute dessen Hinterlassenschaft.
«Mein Vater machte alles – grosse Reportagen ebenso wie PR und Werbeaufträge.» Vier Kinder mussten ernährt werden, da kam fast jeder Auftrag recht.
Aufgewachsen ist Walter Studer in Thun, die Verhältnisse bescheiden. Sein Vater, ein Gaszähler-Ableser, fotografiert nebenher und funktioniert regelmässig das winzige Badezimmer zum Fotolabor um. Diese Begeisterung für Fotografie färbt auf den jungen Walter ab.
Mit 17 macht er eine Fotografenlehre in Spiez, ist bald als Sportfotograf in Kurorten unterwegs und später als Reporter für die Agentur Photopress Zürich. 1948 dann das eigene Geschäft in Bern – und damit der Erfolg: Es folgen zahlreiche Aufträge für Presse, Industrie und öffentliche Unternehmen.
Ärmste Verhältnisse
Aus heutiger Sicht besonders wertvoll: Walter Studers Reportagen über Schweizer Heim- und Verdingkinder, die er in den 1950er-Jahren im Auftrag der «Schweizer Illustrierten Zeitung» realisierte. Wertvoll deshalb, weil sie etwas erzählen über damalige Absichten.
«Man sprach damals zunehmend von Pflegekindern statt Verdingkindern», sagt Peter Studer. «Man war allseits bemüht zu zeigen, dass sich die Lage dieser Kinder verbessert hat.» Sein Vater lieferte die Bilder dazu, Idyllen auf dem Land.
Verurteilen möchte Peter Studer seinen Vater deswegen nicht. «Die Bilder waren eine Auftragsarbeit – eine unter vielen. Alle wussten: Heute kommt der Fotograf. Manche Kinder wirken daher etwas ‹zwägbüschelet›.»
Bundesräte und Fussball-Nati
Die Fotografien von Verdingkindern waren bloss ein kleiner Teil von Walter Studers zahlreichen Reportagen, die in den 1950er-Jahren entstanden. Über die Jahre porträtierte er Bundesräte, flog mit der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft nach Chile und arbeitete für grosse Schweizer Unternehmen.
Dennoch: Walter Studer blieb mit dem Kleinen Mann von der Strasse stets verbunden. «Er sei gerne am Morgen beim Bundesrat und am Nachmittag beim Bauern im Stall, sagte er immer.» Diese Haltung spricht aus vielen seiner Fotos: Walter Studers Bilder kennen keine Ironie oder erhabene Distanz.
Kunst ohne Künstler
Künstler, das waren die anderen. Fotografen wie Henri Cartier-Bresson oder Jakob Tuggener, für die er grosse Bewunderung hatte. Aber er, Walter Studer, ein Künstler? «Das Wort gab es schlicht nicht», sagt sein Sohn. «Es hat ihn auch gar nicht interessiert.» Dass seine Fotos längst in Schweizer Kunstmuseen hingen, änderte nichts daran.
Wenn sich Walter Studers Geburtstag am 22. April zum 100. Mal jährt, wird kein Rauschen in den Feuilletons zu hören sein. Das mag vielleicht daran liegen, dass ihm der ganz grosse Wurf, der sich im kollektiven Kunst-Gedächtnis festsetzt, verwehrt blieb. Vielleicht auch daran, dass er sich selbst nicht so wichtig nahm.
Was stattdessen bleibt, ist das umfassende Werk eines aufmerksamen Arbeiters: Vielschichtige Blicke auf eine Schweiz, wie es sie heute nicht mehr gibt. Auf Bauern und Bundesräte, auf Strassenszenen und Berglandschaften. Auf Martheli, 11 Jahre alt, aus dem unteren Emmental, Verdingkind.