Die erste reale Begegnung mit der Geschichte hatte ich in seiner Wohnung in München. Nach all den Berichten und Akten, die ich gelesen hatte, war das der erste Moment, wo mir bewusst wurde: Dahinter steckt ein menschliches Schicksal.
Die Wohnung am Artur-Kutscher Platz war eine spiessige Dreizimmerwohnung. Gurlitts Mutter Helene hatte sie 1961 gekauft, nachdem Gurlitts Vater Hildebrand 1956 bei einem Autounfall ums Leben kam.
Sammeln und horten
In Gurlitts Wohnung herrschte Chaos. Man merkte, dass hier schon viele Leute durchgekommen waren: Fahnder, Provenienzforscher, Anwälte.
Auffallend waren eine alte Revox Bandmaschine, eine Bibel voll mit Notizzetteln, eine Schreibmaschine und viele Klassik-CDs. Die Musik hörte er noch bis zum Schluss. Cornelius Gurlitt sammelte viele Dinge: Glühbirnen, Heizlüfter, Spielzeugeisenbahnwagen, Schlüssel. Er häufte Vorräte an.
Es war vieles noch da, obwohl einige Jahre seit seinem Tod vergangen waren. Als Gurlitt 2013 ins Krankenhaus kam, wurde die Wohnung renoviert. Sein damaliger Betreuer hatte sie aufräumen und neu streichen lassen, in der Hoffnung, Gurlitt würde sich von seiner Herzoperation erholen.
Konserven im Wohnzimmer
Ich stellte mir den Moment vor, als am 28. Februar 2012 der Kunst-Krimi um die Gurlitt-Sammlung begann: Wie hier die Zollfahnder einmarschierten, um die Kunstwerke zu beschlagnahmen.
Auf den Fotos der Fahnder war die Wohnung mit Lebensmitteln vollgestellt gewesen. Die Küche war kaum mehr zu betreten und im Wohnzimmer stapelten sich – fast schon ordentlich – die Konservendosen und Einmachgläser.
War Cornelius Gurlitt einfach zu alt, um seinen Alltag zu bewältigen? Oder war es eine pathologische Form der Unordnung? Sein Hang, Dinge anzuhäufen und in mehrfacher Ausführung zu kaufen, war klar ersichtlich.
Das fiel den Fahndern schon auf, noch bevor sie die Wohnung betreten hatten. Bei der Observation beobachteten sie ihn dabei, wie er im nahegelegenen Kaufhaus 12 gleiche Hemden kaufte. War das verdächtig?
Indizien und Mutmassungen
Es ist eine Frage, die sich während unserer Recherche immer wieder stellte: Was hatten die Zollfahnder gegen Cornelius Gurlitt in der Hand, um seine Wohnung zu durchsuchen und die 1200 Bilder zu beschlagnahmen?
Wenn man die Ermittlungsakten liest, erhält man den Eindruck, dass vieles auf Mutmassungen basierte. Er verhalte sich äusserst konspirativ, steht an einer Stelle.
Ein Leben als Einsiedler
Gurlitt hatte die Rollläden immer zu und bewegte sich nur selten nach Draussen. War das konspirativ? Man müsste die Richterin fragen, die den Durchsuchungsbeschluss unterzeichnete, was damit gemeint war.
Als seine Geschichte an die Öffentlichkeit drang und er von Journalisten belagert wurde, stopfte Gurlitt sich Ohrstöpsel rein und verschanzte sich. Oder er hörte Mozart oder Wagner mit Kopfhörern – ich meine die Verpackung der Kopfhörer in der Wohnung gesehen zu haben.
Angst vor den Behörden
Cornelius Gurlitt hatte sein Leben lang grosse Angst vor den Steuerbehörden. Ihm war bewusst, dass die Bilder grossen Wert hatten, doch er war kein Kunsthändler wie sein Vater.
Er führte auch keine Bilder in der Schweiz ein, wie ihm vorgeworfen wurde. Das Geld, das die Fahnder bei der Kontrolle im Zug bei ihm fanden, stammte aus Privatverkäufen an die Galerie Kornfeld in Bern, die er über zehn Jahre vorher getätigt hatte.
Ein paar Mal im Jahr fuhr Gurlitt in die Schweiz und holte sich etwas Geld ab, das in einem Schliessfach bei der UBS lag. Die Fahnder fanden die Schlüssel zum Schliessfach und die Bankauszüge. Doch dass ein fast 80-jähriger Mann Bilder transportierte oder regen Handel betrieb, wie die Fahnder vermuteten, war etwas weit hergeholt.
Historische Verantwortung auf 12m
Das Zimmer der Müncher Wohnung, in dem die Bilder lagerten, war mit Kisten gefüllt. Ein Bett stand noch drin. Erstaunlich, dass man auf so kleinen Raum so viele Kunstwerke lagern konnte.
Die Welt empörte sich damals wegen dieser ca. 12m. Die historische Verantwortung, die man wahrnehmen müsse, wie die deutsche Regierung immer wieder betonte, berief sich auf diesen kleinen Raum.