Kommende Woche findet mit der Art Basel das Klassentreffen der Kunstszene statt. Das Milieu wird wie jedes Jahr ein exklusives sein – in vielerlei Hinsicht.
Zum Beispiel gibt es unter den Kunstschaffenden auffallend wenige Mütter. Warum ist das so? Die verflixte Vereinbarkeit von Kind und Karriere ist nicht der einzige Grund.
Berlin Calling
Anne Weber sagt, sie habe zu grosse Angst davor, Muttersein und Kunst zu vereinbaren. Darum hat sich die 38-jährige Animationsfilmerin und Künstlerin gegen Kinder entschieden.
Gerade ist sie beruflich für ein paar Tage in Berlin. Unser Gespräch findet darum per Skype statt. Anne Weber trägt eine grosse Brille mit Plastikrand und einen Pagenschnitt. Sie denkt öfters lange nach, bevor sie eine Antwort gibt.
Anne Weber hat sich bewusst dagegen entschieden, Kinder zu haben. Und: Anne Weber heisst nicht Anne Weber. Sie möchte nicht unter ihrem wirklichen Namen sagen, dass ihre Kolleginnen, die Kunst machen und Kinder haben, ihr kaum als Vorbilder taugen. Sobald sie Mütter werden, kommt die grosse Verantwortung, gepaart mit Erwartungsdruck von aussen.
Rückkehr der alten Rollenbilder
«Öfters höre ich: Frauen, die 100 Prozent arbeiten, sollten keine Kinder haben.» Dass sich diese Strukturen sogar in ihrem offenen, progressiven Umfeld halten, verwundert die Künstlerin.
Die gesellschaftlichen Erwartungen an eine Mutter – sich aufzuopfern, alles für das Kind in den Hintergrund zu stellen – machen laut Anne Weber auch nicht vor den Künstlerinnen Halt.
Das hat Folgen: «Ich sehe viele Frauen, die in ein veraltetes Rollenbild fallen», erklärt sie. Diese Form von Muttersein würde sie nicht mit ihrer künstlerischen Tätigkeit vereinbaren können.
Darum möchte sie nicht Mutter sein: «Leider kann ich den Druck nicht ignorieren» – auch wenn sie Kinder mag und es schade findet, keine zu haben.
Bis hierher unterscheidet sich Anne Weber mit ihren Überlegungen nicht von anderen berufstätigen Frauen.
«Meine Filme sind meine Babys»
Aber Anne Webers Entscheid hat auch mit der Besonderheit ihres Berufes zu tun. Sie sagt: «Meine Berufung als Künstlerin ist mehr als ein Nine-to-five-Job. Künstlerin ist man nicht vom Moment an, wo man im Büro ankommt bis man wieder geht.»
Ihre Projekte verlangen die volle Präsenz der Animationsfilmerin, mit ganzem Herzen und ganzer Kraft, wie sie sagt: «Manchmal sage ich: Meine Filme sind meine Babys.»
Sie sei nicht sicher, ob sie die gleiche Leidenschaft und Energie aufwenden könnte, wenn sie ein Kind hätte, sagt Anne Weber.
Die Farbe des Geldes
Ein weiterer Grund ist das Geld. Wenn sie ein Kind hätte, gäbe es ein finanzielles Problem. Ihr Einkommen ist unregelmässig. «Solange nur ich betroffen bin, kann ich das gut handhaben. Mit einem Kind wäre die finanzielle Verantwortung zu gross.»
Anne Weber sagt, mit einem Kind müsste sie einen anderen Job annehmen. Und die Kunst aufgeben. Zu diesem Schluss kommen viele Kunstschaffende – vor allem Frauen.
Zahlen, bitte
Das beobachtet auch Visarte, der Schweizer Berufsverband der visuell schaffenden Künstlerinnen und Künstlern. Letztes Jahr startete Visarte eine Umfrage zum Thema «Kunst und Kind».
Von den 2650 Aktivmitgliedern meldeten sich zwar nur wenige zurück, am Ende konnten 200 Fragebogen ausgewertet werden. Aber die Antworten, die kamen, sprachen eine deutliche Sprache.
Tendenziell wird auf Familiengründung verzichtet – oder die Kunst liegt auf der Strecke. Der Hauptgrund dafür seien die Finanzen, sagt Regine Helbling, Kunsthistorikerin und Geschäftsführerin von Visarte Schweiz.
Dreifachbelastung
Geldverdienen und Kinderbetreuung in ein Leben packen: Vor dieser Herausforderung stehen viele Berufstätige. Inwiefern ist der Kunstberuf stärker davon betroffen?
«Bei Künstlern kommt hinzu, dass sie von der Kunst meistens nicht leben können», erklärt Regine Helbling. Sie brauchen oft noch zusätzlich einen Job, um sich zu finanzieren.
«Es sind drei Komponenten – Kind, Kunst und Zweitjob – die unter einen Hut kommen müssen», so Helbling. Eine Dreifach- statt eine Doppelbelastung also.
Stipendien und andere Stolpersteine
Aber auch in den Strukturen der Kunstszene gibt es viele Stolpersteine. Die beliebten Atelierstipendien etwa sind alles andere als familienfreundlich. «Oft sind Kinder explizit nicht erwünscht», sagt Regine Helbling.
Dazu kommt: Viele Kunstschaffende fühlen sich alleine mit ihrer Situation. Die Umfrage hat gezeigt, dass viele einen Austausch mit anderen Künstler-Eltern vermissen.
Visarte stellt abschliessend fest, dass es zum Thema Kunst und Kind «an gesellschaftlichem, institutionellem und behördlichem Bewusstsein mangelt». Es sei «ein Tabuthema unter Kunstschaffenden genauso wie im Ausstellungsbetrieb und im Förderwesen».
«Die mit dem Kind»
Auch Anna-Sabina Zürrer kann bestätigen, dass man zu wenig über das Thema spricht. Sie ist ebenfalls 38 Jahre alt, arbeitet als Künstlerin und Kunstlehrerin – und hat einen Sohn, der in den Kindergarten geht. Dessen Betreuung teilt sie sich mit dem Vater, von dem sie getrennt lebt.
Anna-Sabina Zürrer möchte zwar nicht anonym bleiben. Aber auch sie hat sich ihren Schritt in die Öffentlichkeit sehr genau überlegt. Sie möchte «nicht als ‹die mit dem Kind› abgestempelt werden», wie sie sagt.
«Leider hat das in der Kunstszene noch bei vielen einen negativen Beigeschmack», so Zürrer. In ihrem Lebenslauf als Künstlerin erwähnt sie darum nicht, dass sie Mutter ist. Das machen viele ihrer Berufskolleginnen so.
Bei Künstlern, die Väter sind, sei das oft anders: «Ein werdender Vater wird in den neun Monaten vor der Geburt des Kindes wahrscheinlich nie gefragt, ob er plant, danach seinen Künstlerberuf aufzugeben», sagt sie. Bei ihr sei das hingegen oft vorgekommen.
«Kunst ist so unberechenbar wie ein Kind»
Anna-Sabina Zürrer kommt aus Zürich, lebt und arbeitet in Luzern. Von ihrem Schulbüro aus sieht sie direkt auf den Vierwaldstättersee. So schön die Kulisse ist, viel Zeit für Musse hat Anna-Sabina Zürrer nicht. Flink nimmt sie die Stufen, die vom Schulhaus runter in die Stadt führen.
«Kunst ist genauso unberechenbar wie ein Kind», sagt sie. Es kann immer etwas Unerwartetes passieren. Auch sie erwähnt die unregelmässigen Arbeitszeiten. Wenn eine Ausstellung ansteht, arbeitet Anna-Sabina Zürrer Tag und Nacht.
Keine Zeit für Freizeit
Da sie vom Vater ihres Kindes getrennt ist, muss sie sich noch besser organisieren und möglichst alle Termine von Kunst und Lehrberuf in die kinderfreie Wochenhälfte schieben.
Das Sozialleben schrumpft, Zeit für Freizeit oder Hobbies gibt es kaum. «Das ist der Preis, den wir zahlen», sagt Zürrer.
Sie steigt in den Bus, der sie zum Atelier fährt. Den Raum teilt sie mit einer Kollegin. Sobald sie im Atelier angekommen ist, fängt es draussen an zu regnen.
Anna-Sabina Zürrers Sohn ist heute ausnahmsweise mit dabei. Er zeichnet eine Ritterburg und knabbert an Rüeblistangen, während seine Mutter redet.
Viel Arbeit, wenig Lohn
Seit seiner Geburt sei es schwieriger geworden, sich in eine neue Thematik zu vertiefen. So etwas brauche viel Zeit und Ruhe – und das sei «Mangelware mit Kind», so Zürrer. «Plötzlich sind die vielen unbezahlten Arbeitsstunden im Atelier keine Selbstverständlichkeit mehr» – sondern eine finanzielle Belastung.
Im kommenden Jahr präsentiert Anna-Sabina Zürrer ihr Werk auf 1000 Quadratmetern im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil. Das ist eine Ehre – aber für sie finanziell kaum zu stemmen. Das Honorar entspricht einem sehr kleinen Monatslohn, während Anna-Sabina Zürrer mit neun Monaten Arbeitszeit rechnet.
Abstand von der Arbeit
Zürrer ist froh, dass sie von der Schule, in der sie unterrichtet, Rückendeckung bekommt: In der Zeit, die sie für die Ausstellung braucht, kann sie unbezahlten Urlaub beziehen. Wie sie die fehlenden Monatslöhne finanzieren wird, weiss sie noch nicht.
Gleichzeitig betont die Künstlerin, dass Kunst und Kind sehr wohl kombinierbar seien. Sie profitiere sogar davon. Dass sie zeitweise Abstand von ihren Werken bekommt, tue ihrer Arbeit gut: «Durch meinen Sohn habe ich gelernt, kurze Zeitspannen intensiver auszukosten».
Konzentriert in eine Tätigkeit versunken sein, auch wenn es nur für eine kurze Zeit ist: Das schaut sich Anna-Sabina Zürrer von ihrem Sohn ab.
Und trotzdem: Sie wünscht sich mehr Verständnis für Kunstschaffende in ihrer Situation, vor allem von der Kunstwelt. Zum Beispiel, wenn nicht mehr so viele Arbeiten wie früher entstehen. Oder wenn der Lebenslauf nicht vor Atelierstipendien rund um den Globus strotzt.
Ein Kraftakt
Für den Visarte-Berufsverband ist klar, dass sich etwas ändern muss. Geschäftsführerin Regine Helbling möchte als Erstes Workshops mit Künstlerinnen und Künstlern durchführen, um Lösungsansätze zu finden.
Ateliers und Auslandaufenthalte sollen familienfreundlicher gestaltet werden, Vernetzungs- und Informationsangebote vergrössert werden. Aber Regine Helbling wünscht sich auch eine Sensibilisierung in einem grösseren politischen Kontext.
Dass sich Kunst und Kinder nur mit viel Kraftaufwand kombinieren lassen, hat mit dem Kunstberuf an sich zu tun. Und doch handelt es sich oft um ein Gleichstellungsthema.
Vielleicht ist es darum gerade richtig, dass die kommende Woche nicht nur die Art Basel stattfindet, sondern auch der Frauenstreik.