Ziemlich viele, ziemlich wilde Tiere leben friedlich zusammen an den Wänden der berühmten Höhle von Chauvet . Der gemalte «Zoo» mit Nashörnern, Mammuts, Löwen, Bären, Hyänen und vielen anderen Viechern ist beeindruckend schön und unglaublich alt. Die Malereien in der französischen Höhle, die erst 1994 entdeckt wurden, gehören mit ungefähr 30'000 Jahren zu den ältesten der Welt.
Diese Datierung wird allerdings angezweifelt: Die Radiokarbonmethode kann bloss das Alter der Holzkohle bestimmen. Wann die Bilder – mit vielleicht uralter Holzkohle – tatsächlich gemalt wurden, bleibt unklar.
Und unterdessen wurden weitere, weit ältere Malereien entdeckt: Die Pustelschweine auf der Insel Sulawesi sollen 45'500 Jahre alt sein.
Mit der Entdeckung der indonesischen Malereien wird eine gern geglaubte These hinfällig: dass die Kunst in Europa erfunden worden sei, so wie es die Höhlenmalereien von Chauvet, Altamira und Lascaux nahelegen.
Die eurozentrische Nabelschau findet mit den Entdeckungen der asiatischen Schweinchen ein Ende. Und es ist bei weitem nicht die einzige These, die durch prähistorische Kunst ins Wanken gerät, revidiert und über Bord geworfen werden muss.
Entdeckungsgeschichte voller Knalleffekte
1868 fanden Jäger auf der Suche nach einem verlorenen Hund die spanische Höhle Altamira mit ihren fantastischen Bisons, Pferden und Hirschen. Die Fachwelt von damals hielt die Höhlenmalereien allerdings nicht für prähistorische Kunst, sondern für zeitgenössische Schmierereien.
Über Jahrhunderte waren Höhlenmalereien wohl entdeckt, aber nicht als prähistorisch identifiziert worden. Schliesslich hatte Gott die Welt erschaffen, für eine Vorzeit war kein Platz.
Kunst oder Schmiererei?
Doch nicht nur der Kreationismus lieferte gute Gründe für Zweifel. In der damaligen Fachwelt hielt man sich an Fortschrittsglauben und Evolutionismus. Beide lehrten, dass unsere Vorfahren als tumbe Toren durch die Savanne und die Eiszeit gestolpert waren. Wie also hätten sie so wunderbare Kunst erschaffen können?
Doch diese Sichtweise änderte sich allmählich. Als 1901 in der französischen Dordogne ähnliche Höhlenmalereien auftauchten, revidierte beispielsweise der anerkannte Prähistoriker Émile Cartailhac sein Urteil mit dem berühmten Aufsatz «Mea Culpa d’un sceptique» .
Von wegen primitiv
Die Höhlenmalereien von Altamira als prähistorisch anzuerkennen, bedeutete einen Neubeginn. Es war der Abschied vom Evolutionismus und seinen kulturellen Stufenmodellen, die zuunterst «primitive Naturvölker» einzeichneten und zuoberst moderne, westliche Kulturen als höchstentwickelte Zivilisationen zeigten.
Altamira bewies: Wir Modernen sind nicht die Krone der Schöpfung, bereits vor Jahrtausenden gab es ziemlich begabte Menschen. Das zeigen auch die ältesten bisher gefundenen Elfenbeinstatuetten von der schwäbischen Alb.
Stilisierte Figuren
Bis zu 40'000 Jahre alt sind die «Venus vom Hohlefels» und das Wildpferd aus der Vogelherd-Höhle. Das Pferdchen und die Venus sind so klein, dass sie in je eine Faust passen. Auffällig ist ausserdem: Beide sind deutlich stilisiert. Die Wildpferde dieser Zeit hatten kräftigere Hälse und die Frauen wohl kleinere Busen.
Die Künstlerinnen oder Künstler, die die Statuetten schufen, folgten also keinem Naturalismus, sondern nutzten expressive Gestaltungsmittel, um zur Essenz der Figuren zu gelangen.
Vielleicht waren die Statuetten Glücksbringer. Vielleicht boten Höhlenmalereien als Votivbilder Schutz oder markierten Orte der Spiritualität – vielleicht aber auch nicht.
Wenn es um Interpretationen der Bilder und Figuren geht, verstummen Archäologinnen und Archäologen mit Bedacht. Denn sie wissen es nicht. Fast alles, was über die reine Anschauung hinausgeht, ist Spekulation. Es fehlen Beweise.
Abenteuer Forschungsreise
Einer, der die Bedeutung der frühen Kunst erforschen wollte, war Leo Frobenius. Der deutsche Abenteurer und Ethnologe bereiste mit Künstlerinnen und Künstlern zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt, sammelte Felsbilder und Höhlenmalereien aus Afrika, Australien oder Skandinavien.
Abstrakte Kunst auf Felsen
Frobenius' Künstlertrupp kopierte die Felsbilder eins zu eins auf Leinwände. Aus prähistorischer Kunst, die an Felswände gebunden war, wurden transportierbare, ja sogar gerahmte Kunstwerke, die in Ausstellungen gezeigt wurden.
Die Ausstellungstournee von Frobenius' gesammelten Felsbildern zog durch die Hauptstädte der Welt und erschütterte in den 1930er-Jahren die Kunstwelt.
Denn die prähistorischen Felsbilder zeigten nicht nur ausdrucksstarke Tiere und Menschen und Jagdszenen voller Bewegung und Dynamik. Sie zeigten auch die Formensprache der Abstraktion: Linien, Flächen und organische Formen.
Lernen von den Alten
Die Ästhetik der uralten Bilder traf auf eine moderne Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die Ähnliches suchten. Bereits um 1900 hatten ozeanische Masken und sogenannte «Stammeskunst» Maler wie Paul Gauguin, die Kubisten und viele andere inspiriert. Nun wirkte die prähistorische Kunst in einer zweiten Welle ähnlich.
Picasso soll in Lascaux ausgerufen haben: «Wir haben nichts dazugelernt!» Joan Miró meinte, «die Malerei befindet sich seit dem Höhlenzeitalter im Niedergang.» Und Alberto Giacometti notierte 1946 in sein Notizbuch: «Zeichnungen der Höhlen. Zeichnungen der Höhlen, Höhlen, Höhlen. Da und nur da ist Bewegung gelungen.» Tatsächlich ähneln Giacomettis schnurdünne Menschen den prähistorischen Bildern, die ebenfalls abstrahierend Bewegung im Raum festhalten.
Pollock, Krasner und Miró als Nachfahren
Weitere Verwandtschaften lassen sich quer durch die Kunstgeschichte finden: Die vielen Schichten, die Tiere und Menschen in Höhlenmalereien und Felsbildern übereinanderlegen, finden ihren Widerhall in Jackson Pollocks Malverfahren. Auch manche Bilder der abstrakten Expressionistin Lee Krasner ähneln uralten Bildern.
Insbesondere die abstrakten, biomorphen Formen, die zahlreiche Künstler der Moderne entwickelten, scheinen prähistorische Vorbilder zu haben. Die Formensprache eines Joan Miró, des Künstlerpaars Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp oder die «Blps» des US-amerikanischen Künstlers Richard Artschwager weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf.
Eine Beeinflussung der Moderne durch prähistorische Kunst ist nur in Einzelfällen belegt. Die augenfälligen Parallelen lassen aber zumindest den Umkehrschluss zu: dass «modern» wirkende Prinzipien von Komposition, Bildaufteilung und Abstraktion bereits unseren Vorfahren vor Tausenden von Jahren geläufig waren.
So viel Abstraktion so früh – das hatte Auswirkungen nicht nur auf die Kunst, sondern auch auf die Kunstgeschichte. Jahrhundertelang verpackte sie alles fein säuberlich in einander ablösende Epochen, mit einer klaren Entwicklungslinie hin zur Abstraktion. Die abstrakten Elemente der prähistorischen Malerei machen auch diese Entwicklungsvorstellung unhaltbar.
Schon immer malte der Mensch abstrakt
Der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp sprach 2016 auf einer Tagung von der «problematischen ‹Moderne› prähistorischer Kunst» und kam im Deutschlandfunk zum Schluss: «Wenn man sich dieses Szenario genau durchdenkt, dann ist die Antike und deren Nachfolgeschaft ein Sonderfall einer Kunst, die 80’000 Jahre lang immer modern war.»
Von den griechischen Statuen bis zu Renoirs duftigen Bildern wäre alles bloss eine Ausnahmeerscheinung, eine kurze Epoche des Figürlichen. Vorher und nachher herrschte eine Kunst vor, die Abstraktion selbstverständlich pflegte, kannte und als Ausdruck nutzte.