«Er kann viel, dieser Martin Walser – erzählen kann er ums Verrecken nicht!»
Sätze wie dieser prägten sich ein. Kein Wunder war Marcel Reich-Ranicki bekannt wie kaum ein Büchermensch. Selbst wer nichts mit Literatur anfangen konnte, kannte den Onkel mit dem markanten Akzent, der zur besten Sendezeit mit erhobenem Zeigefinger Romane verriss.
Superstar der Kritik
1988 lief «Das Literarische Quartett» zum ersten Mal im Fernsehen. Reich-Ranicki gelang damit, was niemand für möglich gehalten hatte: über Bücher zu streiten und dabei traumhafte Einschaltquoten zu erzielen.
Durch seine Kritiken fand ich als Teenager in den Nullerjahren Zugang zur Literatur. Denn hier vermittelte einer Spass an deren Lektüre. Was man von meiner damaligen Deutschlehrerin weniger behaupten konnte.
Amazon statt Feuilleton
Würde er noch leben, er fände die Literaturlandschaft heute stark verändert: Die Feuilletons drucken immer weniger Buchbesprechungen, Literatursendungen wie zuletzt das «Bücherjournal» im NDR werden abgesetzt.
Und statt sich von Gross-Kritikerinnen und Kritiker durch den Neuerscheinungs-Dschungel lotsen zu lassen, orientieren sich heute viele lieber an den Kundenrezensionen bei Amazon & Co.
Alles, bloss nicht langweilen
Allerdings hat Reich-Ranicki diese Entwicklung als Kritiker selbst vorweggenommen. So brutal, wie bisweilen auf Amazon über Shakespeare oder Kleist geurteilt wird, so schonungslos ging auch er mit Autorinnen und Autoren ins Gericht. Denn Literatur mussten für ihn vor allem eines sein: unterhaltsam.
Darin unterschied sich Reich-Ranicki, der 1959 aus Polen nach Westdeutschland übersiedelt war, wohltuend von seiner Generation. Die deutsche Kritik der Adenauer-Jahre war moralisierend, verknöchert, akademisch – schlicht: langweilig.
Reich-Ranicki dagegen schrieb nicht nur witzig, sondern anschaulich. Und machte damit die Literaturkritik zum Ereignis.
«Halber Deutscher, ganzer Jude»
Nicht nur für die Literatur engagierte er sich. Als «halber Pole, halber Deutscher und ganzer Jude», wie er sich selbst einmal vorstellte, hatte er die Judenverfolgung am eigenen Leib erfahren und kämpfte für deren Aufarbeitung. Zum Beispiel mit der Autobiografie «Mein Leben», die ein Jahr lang auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste stand.
Rückständige Ansichten
Leider konnte er auch rückständig und unreflektiert sein. Vor allem, wenn es um schreibende Frauen ging. Oder den Feminismus.
In seinem Romankanon etwa findet sich kein einziges Werk einer Frau. «Frauen können keine Romane schreiben», so die Begründung. Als Juror für den Bachmannpreis brachte er eine Teilnehmerin mit den Worten «Wen interessiert schon, was die Frau […] fühlt, während sie menstruiert?» zum Weinen.
Und das «Literarische Quartett» zerbrach 2000, weil er seine Co-Kritikerin Sigrid Löffler als lustfeindlich beschimpfte, nachdem diese einen von ihm vorgeschlagenen Roman bemängelt hatte.
Aus der Zeit gefallen
Für mich gehört Marcel Reich-Ranicki in eine vergangene Ära. Die Zeit der Literaturpäpste ist vorbei. Zum guten Glück. Der Literaturbetrieb ist heute demokratischer und vielfältiger. Auch die Diskriminierung von Autorinnen bessert sich, obgleich nur langsam.
In Erinnerung bleibt er als markante Figur. Als Aussenstehender, der den Deutschen ihre Literatur näherbrachte. Mit «Mein Leben» gebührt dem Zeitzeugen der Schoah zudem selbst ein Platz in der deutschen Literatur.