Als Wisława Szymborska 1996 den Nobelpreis für Literatur erhielt, geriet sie in Panik und konnte mehrere Jahre lang nicht mehr schreiben. Poesie komme aus dem Schweigen, sagte die polnische Dichterin einmal. Auf Anfragen für Interviews antwortete sie gerne: «Ich komme, wenn ich jünger bin.»
Ihre feine Ironie und ihre Kunst, mit wenigen Worten alltäglichen Fragen eine metaphysische Dimension zu verleihen, begeistern bis heute. Die deutsche Autorin Elke Heidenreich entdeckte Szymborskas Gedichte erst spät – aber war sofort hin und weg vom doppelbödigen Witz der Lyrikerin.
SRF: Sie weisen immer wieder mit Begeisterung auf die Gedichte von Wisława Szymborska hin. Weshalb ist Ihnen so viel am Werk dieser polnischen Dichterin gelegen?
Elke Heidenreich: Es sind Gedichte, die direkt mit uns zu tun haben – sie sind einfach, klar, unverschnörkelt und treffen direkt ins Herz. Das ist mir von der ersten Lektüre an so gegangen.
Wie erklären Sie sich, dass die Gedichte von Wisława Szymborska sowohl für populäre Songs taugen als auch für den Nobelpreis für Literatur?
Sie spricht Dinge an, die wir alle erleben und wahrnehmen – mit einer lyrischen Sprache, die oft ironisch, aber niemals zynisch ist. Szymborska hat ein feines Gespür für Abweichungen von der Norm. Das erreicht alle Menschen sofort; man muss keine Angst haben, dass man die Gedichte nicht verstehen könnte. Ihr doppelbödiger Witz ist grossartig.
Haben Sie diese Autorin dank des Nobelpreises für sich entdeckt?
Ja, ich war 1996 auf der Frankfurter Buchmesse, als der Preis bekannt wurde. Schon dreimal habe ich im Vorfeld richtig erraten, wer den Literatur-Nobelpreis erhalten würde, doch den Namen Szymborska hatte ich noch nie gehört. Ich wusste nicht mal, wie man das ausspricht.
Nicht jeder muss Poesie mögen, aber für manche ist sie ein rettendes Geländer.
Am nächsten Morgen bin ich ganz verschämt in eine Buchhandlung gegangen und habe mir alles gekauft, was ich kriegen konnte – und war hin und weg.
Obwohl Szymborskas Gedichte so zugänglich und humorvoll sind, kennen viele ihren Namen nicht – woran liegt das?
Welcher Lyriker ist schon grossartig bekannt – heute lesen viele Leute keine Gedichte mehr. Sie gelten als altmodisch, man denkt an Goethe, Eichendorff, Rilke – die Sprachfreunde vielleicht noch an Benn, dann ist auch schon Schluss.
Alles Neue macht Angst, und das ist in diesem Fall grundfalsch. Denn Szymborska kann die ganze Trivialität unserer Alltagssorgen auf unnachahmliche Weise ausdrücken.
Sie hat einmal sinngemäss gesagt: Nicht jeder muss Poesie mögen, aber für manche ist sie ein rettendes Geländer. Das geht mir genauso. In einem Gedicht von ihr heisst es: «Meine besonderen Kennzeichen sind: Ich begeistere mich und verzweifle.» In dieser Mischung finde ich mich wieder.
Das Gespräch führte Irene Grüter.