Mitten im Ersten Weltkrieg bangt eine Mutter in Berlin um das Leben ihres Sohnes. Bald ist er 18-jährig und damit alt genug, um einberufen zu werden.
Die Mutter ist die angesehene deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler. Sie plant, ihren Sohn Paul in der Schweiz im Sanatorium Kilchberg zu verstecken.
Sohn vor dem Krieg bewahrt
«Sie wusste, dass der Arzt dieser Privatklinik mit fingierten Attesten Kriegspflichtige aus Österreich und Deutschland vor dem Kriegsdienst bewahrte», sagt die Historikerin und Germanistin Ute Kröger, die jene Zeit im Buch «Viele sind sehr sehr gut zu mir» eingehend aufgearbeitet hat.
Das Vorhaben gelingt: Am Tag der Volljährigkeit, am 24. August 1917, nimmt der zuständige Arzt Paul Lasker im Sanatorium Kilchberg auf. So kommt Else Lasker-Schüler erstmals in die Schweiz.
Der Sohn ist in Sicherheit. Als der Krieg 1918 vorbei ist, bleibt Paul weiterhin in Zürich und geniesst seine Freiheit.
Else Lasker-Schüler besucht ihren Sohn und arbeitet in der Schweiz gleichzeitig an ihrer Karriere. Die Künstlerin ist eine charismatische Frau. Sie schliesst Freundschaften und baut sich ein Netzwerk auf.
Eine Schar von Verehrern
Bereits 1917 lernt sie Eduard Korrodi kennen, den Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung.
Der ansonsten spröde Kritiker schreibt Ende November 1917 euphorisch über die Dichterin: «Sie hat nicht ihresgleichen. Einzelne Gedichte kommen für mich dem Begriffe des Höchsten der Lyrik am nächsten: Absolute Lyrik.» Er ist einer von vielen, die der Dichterin zugetan sind.
Und dann die Tragödie: Ihr Sohn wird tatsächlich krank. Paul stirbt 1927 an Tuberkulose. Die Dichterin bleibt fortan in Berlin.
Hilfe von Netzwerk
1933 kommt sie allerdings erneut in die Schweiz, diesmal auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. «Sie hätte auch nach Wien oder Prag gehen können», sagt Historikerin Ute Kröger.
«Doch sie entscheidet sich für Zürich, weil sie hier dieses weite Kontaktnetz hat, mit Leuten, auf die sie sich verlassen kann.» In der Schweiz ist sie jedoch nicht willkommen: Sie leidet unter einem Arbeitsverbot und kämpft um eine Aufenthaltsbewilligung.
Jetzt kann sie auf ihren Bekanntenkreis zurückgreifen. Ihre Bewunderer, Förderer, und Geschäftsleute helfen ihr.
Auch finanziell: Als 2013 bei einer Auktion in Zürich überraschend eine Sammelhandschrift und Briefe aus jener Zeit auftauchen, wird klar, dass die Kaufhausdirektoren Hugo May und Kurt Ittmann sie mit monatlichen Geldbeträgen massgeblich unterstützt haben.
«Sie waren Teil des Kraals, wie sie ihre Förderer genannt hat», sagt Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher, Co-Herausgeber von «Ein Gedichtbuch für Hugo May».
Die neuen Bücher zeigen eindrücklich: Else Lasker-Schüler war nicht die passive «Verscheuchte», als die sie oft dargestellt wird. Sie war aktiv, stolz und unerschrocken.