Schon nach fünf Jahren wurde Jakob Senn ausgeschult. Der Lehrer wusste nichts mehr mit dem bildungshungrigen Kind anzufangen. Ausserdem wurde der kleine Jakob zu Hause am Webstuhl als Arbeitskraft benötigt.
Senn wurde 1824 in Fischenthal in eine Heimweber- und Kleinbauernfamilie hineingeboren. In diesem bildungsfernen Milieu war es für den kleinen Jakob schwer, seiner Leidenschaft nachzugehen: dem Lesen.
«Abgesehen von Wandkalendern und Andachtslektüre waren Bücher auf dem Land zu dieser Zeit praktisch nicht greifbar», erzählt Matthias Peter. Der Theatermacher und Publizist ist entfernt verwandt mit Jakob Senn und hat dessen Leben aufgearbeitet. Er ist fasziniert von seinem Schicksal, «einem bildungshungrigen, jungen Mann, der gegen alle Widerstände Schriftsteller wird.»
Schlaflose Nächte
Jakob Senn lässt sich etwas einfallen, um an Bücher zu kommen, um sich zu bilden: Scheu klopft er beim Dorfapotheker an, um welche auszuleihen. Später kann er Bücher bei einer Bibliothek und einem Antiquariat in Zürich bestellen. Tagsüber arbeitet er am Webstuhl oder auf dem Feld. Bücher liest er spät am Abend und früh am Morgen. «Er verzichtet jahrelang auf kostbaren Schlaf», weiss Matthias Peter.
Zum Lesen kommt die Leidenschaft fürs Schreiben. Nach und nach findet Senn Gleichgesinnte – auch dank der politischen Entwicklung. Die Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 führte zu einer Flut von Lese- und Bildungsvereinen auf dem Land.
Der Lebensroman
Jakob Senn gelingt mit 32 Jahren der Sprung nach Zürich. Er arbeitet in einem Antiquariat und fängt als Schriftsteller an, zu publizieren. Seinen steinigen Weg beschreibt er in seinem Lebensroman «Hans Grünauer». Senn hat eine spitze Feder. In unterhaltsamen Anekdoten porträtiert er Leute und erzählt seinen verschlungenen Bildungsweg als Autodidakt.
Die Aufsteigergeschichte «Hans Grünauer» ist zum 200. Geburtstag von Jakob Senn neu aufgelegt worden. Matthias Peter hat das Nachwort dazu geschrieben. «Der Roman ist sein Hauptwerk, das man heute ohne Abstriche wieder lesen kann», sagt er.
Der Erfolg ist dem Roman zu Senns Lebzeiten ausgeblieben. Er wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht und lange Zeit nur als volkskundlich interessantes Dokument gelesen. Aber «Hans Grünauer» hat einen literarischen Wert: Senn weiss mit Sprache umzugehen und erschafft lebendige Bilder und Spannungsbögen.
Tragisches Ende
Der Roman endet mit dem Entscheid, als freier Schriftsteller zu leben. Er erzählt nicht, wie das Leben von Jakob Senn weitergeht. In diesem folgen unerwartete Wendungen: Jakob Senn heiratet und übernimmt mit seiner Frau eine Wirtschaft in St. Gallen. Er verspekuliert sich, und die Familie wandert nach Uruguay aus. Zehn Jahre später kehrt er in die Schweiz zurück. Ein weiteres Vorhaben misslingt, und mit 55 Jahren geht Jakob Senn in die Limmat.
Matthias Peter vermutet, dass Jakob Senn an seinen eigenen Zielen gescheitert ist. «Anstatt sich zufriedenzugeben mit der Antiquariatsstelle, wollte er freier Schriftsteller werden. Die Zerrissenheit zwischen Bescheidenheit und hochtrabenden Plänen hat ihn wahrscheinlich in all den Jahren aufgerieben.»
Es ist das Schicksal von einem, der zur falschen Zeit am falschen Ort gelebt hat. Aber es ist auch die Geschichte, wie man mit enormer Willenskraft das fast Unmögliche erreichen kann.