Wer Charles Baudelaire in der Schule lesen musste, wird es bemerkt haben: An seinen Werken aus dem 19. Jahrhundert war etwas anders. Man verstand, was da stand – auch wenn der Mann genau heute vor 200 Jahren geboren wurde.
Man war fasziniert vom Klang. Berührt von Bildern, die einem auch Jahrzehnte später plötzlich wieder einfallen konnten – wie der Anfang von «Der Schwan», einem der berühmtesten Gedichte der «Fleurs du Mal».
Andromache, ich denke deiner! Dieses Baches Feuchte,
Der dürftige und düstere Spiegel, drin einst hoheitsvoll
Dein Witwenschmerz in ungeheurer Tiefe aufgeleuchtet,
Dieser Simois voller Trug, der unter deinen Tränen schwoll,
Liess plötzlich mein Gedächtnis trächtig sich entfalten,
Als ich die neue Place du Carrousel betrat.
Paris, das alte, ist dahin (noch schneller umgestalten
Als Menschenherzen kann sich, ach, die Form der Stadt).
Der Schwan auf der Strasse
Baudelaires Gedicht «Le Cygne» gehört den Vergessenen und Entwurzelten. Er findet immer neue Bilder fürs Exil: Das eines Schwans etwa, der aus einer Pariser Ménagerie entweicht und durstig und hilflos auf der Strasse landet.
Oder die antike Andromache, ein Kriegsopfer, das wie ein Stück Vieh ins Lager des Siegers verfrachtet wird.
Elend und Ekel, Sucht und Sex
Parallel zu diesen Bildern geht es um die massive Umgestaltung der Stadt Paris in den 1850er-Jahren, die vielen den Boden unter den Füssen wegzog.
Als Sozialkritiker verstand sich Baudelaire aber nie. Er war bedingungslos Dichter, er wollte bedingungslos hinter die Spiegel sehen – auch hinter die des Elends, der Gewalt, des Ekels, der Sucht, des Sex. Darin war er seiner Zeit voraus.
Zudem hasste er alles Bigotte und Etablierte und liebte die Provokation. Ein Sonett über die Liebesnacht zweier Lesbierinnen zum Beispiel durfte in den rund hundert Gedichten der «Blumen des Bösen» nicht fehlen.
Doch «Femmes damnées» sprechen von einer Zerrissenheit, wie sie auch Baudelaires Leben bestimmte: Er kam aus gutem Haus, verlor früh den Vater und jeglichen Halt. Mit Geld konnte er so schlecht umgehen, dass sein verhasster Stiefvater, ein Brigadegeneral, ihn entmündigen liess.
Opiumsüchtig und syphiliskrank, spielte Baudelaire den Dandy mehr schlecht als recht. «Mal» hiess für ihn nicht nur Böses, sondern auch Verzweiflung und Abgrund.
Ach! Abgrund ist schier alles – Handeln, Träumen, Dichten,
Begehren; und ich spüre, wenn die Haare auf sich richten,
So oft den Wind der Angst hinwegwehen über mich.
Seine Zeitgenossen mögen ihm wegen Obszönität den Prozess gemacht haben – die Art und Weise, wie Charles Baudelaire über das Zufällige, Zerbrechliche und Tragische der menschlichen Existenz schrieb, war bahnbrechend und ist es geblieben.
Gleiches gilt für die Form seiner Gedichte. Baudelaire packte seine intensiven Auseinandersetzungen und Erfahrungen in Sonette mit strengsten Alexandrinern – und sprengte sie von innen heraus.
Es scheint fast, als hätte er er einen rigiden Grundtakt gebraucht, um die Silben zum Tanzen zu bringen und jenen Fluss zu erzeugen, der seine «Fleurs du Mal» zu einem der meistvertonten Werke der Weltliteratur machte.