Gabriel Vetter über Handlung und Interpretation: «Schellen-Ursli» ist eine Mobbinggeschichte aus dem Lehrbuch.
Ein Engadiner Einzelkind namens Urs hat bei der Glockenausgabe nicht nur vom Lehrer die kleinste Glocke ausgehändigt, sondern von seinen Eltern offenbar auch nicht genügend Bewältigungsstrategien mit auf den Weg bekommen, um mit dieser Tatsache auf eine gesunde Art umzugehen.
Weswegen Lil' Ursli einen auf Lone Wolf macht und das tut, was ein Bub tun muss, wenn ihm das Damoklesschwert der alpinen Glockenschande über der Zipfelmütze thront. Nämlich des nachts durch den Schnee bergwärts stapfen, um in der Zweitwohnung seiner offenbar mit mehreren Immobilien gesegneten Familie eine grössere Glocke zu klauen – sodass nicht er selbst, sondern irgendein bemitleidenswertes Unterschichtenkind aus dem Dorf an der alljährlichen Bimmelfasnacht die Schande der kleinsten Glocke abkriegt.
Kurz: Das klingt alles ein bisschen so, wie wenn Johanna Spyri gemeinsam mit Gölä eine Älplervariante von «Wolf of Wallstreet» verfasst hätte.
Oder anders gesagt: Eine Geschichte wie die vom Schellen-Ursli ist der perfekte narrative Humus, auf dem so etwas wie das Bündner Baukartell gedeihen kann.
Anja Knabenhans über Handlung und Interpretation: «Schellen-Ursli will nicht die kleinste Glocke von allen und besorgt sich eine grössere.» So umreisst mein Vierjähriger die Handlung. «Schellen-Ursli» ist simpel und drum super. Eine gute Kindergeschichte lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Elegant ausgedrückt: Komplexität ist kacke.
Handlungsschlaufen und Zeitsprünge sind für Kinder im Bilderbuchalter nur verwirrend, Cliffhanger machen sie nicht gluschtig, sondern instantgrantig. Und um die Fantasie anzuregen, braucht es keine verrückten Handlungen oder Figuren. Sondern Zeit, um in ein Bild zu versinken und die Gedanken rumdümpeln zu lassen.
Kritisiert wird gerne, dass sich die Handlung um die Grösse einer Glocke dreht. Vergleiche sind ja heute böse, drum gibt es Schulsporttage mit lauter Gewinnern.
«Schellen-Ursli» wird unsere Kinder nicht auf die dunkle Seite ziehen – solange wir Erwachsenen ihnen weiterhin so prima vorleben, dass Vergleiche etwas Unsinniges sind. Ähem.
Gabriel Vetter über Moral: Die behauptete Moral von «Schellen-Ursli» ist so simpel wie uralt: Du bist deines eigenen Glückes Schmied, und wenn du wirklich willst, dann kriegst du alles, was du dir wünschst.
(Du musst nur Eltern haben, die eine Zweitwohnung besitzen und eine riesige Glocke noch dazu.)
Die pädagogische Moral von «Schellen-Ursli» ist aber: Wenn du von deinen Kollegen gemobbt wirst, dann sorg’ einfach dafür, dass anstelle von dir irgendjemand anderes gemobbt wird. Denn die Stärke eines jeden Kindes liegt nun mal darin, die Schwächen anderer Kinder rechtzeitig zu erkennen und diese für sich auszunutzen.
Die Geschichte vom Schellen-Ursli reproduziert somit die helvetischste aller Lebensphilosophien: Statt soziale Ausgrenzungsmechanismen grundsätzlich infrage zu stellen, rennt man lieber mal eine Nacht lang alleine und ohne Jacke durch den Schnee.
Es ist die angenehme Exit-Strategie aller denkfaulen Protestanten: Wer den Lebenssinn in der tumben Schinderei findet, muss sich nicht mehr mit den grossen existenziellen Fragen nach dem eigenen Dasein herumquälen. Kann man machen, ist nur halt bisschen langweilig.
Anja Knabenhans über Moral: Ich liebe Kinderbücher, die mir ihre Botschaft schon mit dem Titel ins Gesicht spucken. Und deren Handlungsstrang nur ein Ziel verfolgt: Moral ins Gehirn bulldozern. Nicht.
Den «Schellen-Ursli» mag ich, weil er nicht deswegen verfasst wurde. Weil er sogar mehrere Interpretationen zulässt. Für mich lautet die Moral von der Geschicht': Wenn was nicht klappt, verzage nicht.
Lueg, mein Kind, es kommt nicht immer so, wie man es sich wünscht. Jetzt kannst du hinhocken und jammern. Oder hinhocken und jammern und dir dann was überlegen. Wenn dir eine Lösung einfällt, braucht es ein bisschen Anstrengung. Ob sie sich lohnt, weisst du vorher nicht. Aber wenn du es versuchst und alles aufgeht, ist das ein Wahnsinnsgefühl. Häng deinen Erfolg ruhig an die grosse Glocke – sodass allen, die dich kleinmachen wollten, gehörig die Ohren schellen.
Gabriel Vetter über den Look: Der Look von «Schellen-Ursli» ist toll. Er ist einzigartig und fantastisch und interessant und schön. Da habe ich gar nichts einzuwenden. Gar nichts.
Ich bin in einem Städtchen aufgewachsen, in dem die ganze Fassade eines herrschaftlichen Stadthauses von Alois Carigiet bemalt wurde. Das heisst, ich bin mit dem Look auch emotional irgendwie verbunden.
Zu Carigiets Stil habe ich aber noch eine andere persönliche Anekdote: Der Stil von «Schellen-Ursli» ist dermassen unverwechselbar, dass auch die beste Hip-Hop-Crew der Schweiz, Sektion Kuchikäschtli aus dem Bündnerland, ihr Debütalbum «Dorfgschichta» (2002) ursprünglich als grafische Hommage an Alois Carigiet veröffentlichen wollte.
Es war die erste Schweizer Rap-Platte, die ich auswendig mitrappen konnte. Auch ich hatte die CD damals lange im Voraus vorbestellt. Doch kurz vor der Auslieferung stoppte der Orell-Füssli-Verlag das Artwork der CD. Offenbar war Carigiets Stil so hervorragend kopiert worden, dass der Verlag Schiss ums Copyright bekam.
Ich war furchtbar wütend auf den Verlag, weil sich die Auslieferung der Platte verzögerte. Doch Sektion Kuchikäschtli schlugen aus dem Gau ein bauernschlaues Schnippchen und veröffentlichten die CD einfach mit einem leeren, weissen Cover – und einem kleinen beigelegten Farbstift. Message: Mal’ dir dein Schellen-Ursli-Cover selber!
Sektion Kuchikäschtli transportierten also die vermeintliche Moral der Schellen-Ursli-Story auf hintersinnige Art ins Grafische. Sie sagten: Wenn dir irgendein Lumpen-Verlag keine Glocke gönnt, dann mal dir halt selber eine. Vorausgesetzt, es gibt dir jemand einen Farbstift.
Anja Knabenhans über den Look: Dass sich der «Schellen-Ursli» 75 Jahre nach seiner Ersterscheinung immer noch so gut verkauft, dürfte primär an der zeitlos schlichten Illustration liegen. Überladen ist anders.
Unvoreingenommen bin ich nicht. Dieses Bilderbuch begleitet mich mein ganzes Leben und schon der Anblick eines gezeichneten Engadiner-Hauses weckt Erinnerungen an Sommerferien in Heidelbeer-Ekstase. Wimmelbücher liebe ich zwar auch, weil man da sogar beim 7932. Mal erzählen noch was Neues entdeckt, die kleinen Elternfreuden halt.
Trotzdem hat das Reduzierte einen besonderen Reiz: Angenehm für Kinderaugen, ästhetisch für Erwachsenenansprüche.
Gabriel Vetter über die Figuren: Wenn man sich über Figuren unterhält ist immer interessant, als erstes zu schauen, welche Figuren fehlen. Beim Schellen-Ursli wird sofort klar, wer hier fehlt: die Frauen. Die Mädchen. Der Chalandamarz funktioniert (zum Teil auch heute noch) nach der Engadiner Scharia und ist eine rein männliche Veranstaltung.
Der Schellen-Ursli ist genau gleich alt wie Bob Marley, aber ganz im Ernst, der kiffende Reggae-Musiker aus Kingston war um einiges progressiver als sein helvetischer Bergler-Zwilling.
Schellen-Ursli muss also auch heute noch als Blaupause herhalten für allerlei längst überholte helvetische Sehnsüchte. Viele sehen in ihm den anarchischen und selbstbestimmten Geist des unverdorbenen Bergvolks, das für die Lösung von gottgegebenen Problemen unorthodoxe und bauernschlaue Hausmittel einsetzt, und sein Schicksal selber in die Hand nimmt.
Für die einen mag Schellen-Ursli ein vifer, eigenmächtig handelnder Bergbub sein. Für mich ist er einfach der bezipfelmützeste Beweis, dass toxische Männlichkeit auch vor den Rätoromanen nicht Halt macht.
Man könnte beinahe argumentieren, dass Schellen-Ursli eine Art naiv gezeichnete Bergbauern-Variante von Donald Trump ist: Denn auch Schellen-Ursli ist ja alles andere als ein Self-Made-Man, sondern baut seinen privilegierten Glocken-Status auf dem bereits vorhandenen und im Zweitwohnsitz zwischengelagerten Besitz seiner Eltern auf.
Schellen-Ursli und seine Eltern interessieren sich denn auch gar nicht für den sozialen Aspekt des Chalandamarz, sondern lediglich für die Zurschaustellung des eigenen sozialen Status im Dorf. Gegen Ende heisst es: «Jetzt hat der Ursli endlich Zeit, und kann erzählen lang und breit, wie er die Schande hat vermieden. Der Vater ist nun auch zufrieden.»
Der Glockenumzug als folkloristisch kostümierter Schwanzvergleich inklusive Vaterkomplex. Na bravo.
Anja Knabenhans über die Figuren: Dass der Held der Geschichte ein Bub ist? 1945 halt. Dass nur eine weibliche Person vorkommt, nämlich die Mutter? Dito. Bis in die 1980er-Jahre waren 70 Prozent der Figuren in Kinderbüchern männlich. Heldinnen gab es eine Handvoll. Umso beeindruckender ist die Erschaffung von Heidi 1880.
Beim Schellenursli kann ich mit dieser Ungleichheit leben, weil es im Buch nur eine tragende Figur gibt. Alle anderen sind Staffage, ihr Geschlecht ist schnurz. Immerhin ist Ursli ein feinfühliger Kerli, ebenso sein Vater – feine Abweichungen von damaligen Stereotypen.
Erstaunlicher ist, dass noch heute an manchen Chalandamarz-Feiern nur die Buben mit Glocken rumpoltern dürfen, während Mädchen Essen zubereiten – grobe Abweichungen von heutigen Richtlinien.
Gabriel Vetter über die Vermarktung: Kinderbücher sind heutzutage selbstverständlich auch Vehikel, um Ramsch zu verkaufen. Orell-Füssli verfährt mit dem Schellen-Ursli da gar nicht anders als Disney mit seinen unzähligen Franchisen wie «Frozen», «Cars» oder «Spiderman»: Vom Schellen-Ursli gibt es T-Shirts, Käppis, Tassen und dergleichen zu kaufen.
Gegen die Mantel-Nutzung eines Kinderbuch-Protagonisten ist eigentlich nicht viel einzuwenden. Wobei der Schellen-Ursli von seinen grossen Brüdern im Merchandising-Geiste noch einiges lernen könnte. Während bei Disney zum Beispiel sogenannte Cross-Overs längst Usus sind, verharrt man beim Schellen-Ursli immer noch auf der helvetisch unbefleckten Reinheit.
Ich fände Verschränkungen mit anderen Kinderbuchklassikern interessant. Schellen-Ursli meets Pippi Langstrumpf zum Beispiel! Oder irgendwas mit Tomi Ungerer! «Die Drei Räuber» steigen im Maiensäss ein und klauen alle Glocken des Dorfes, um damit später Waisenhäuser zu finanzieren.
Oder warum nicht ein Musical namens «Struwwelpeter meets Schellen-Ursli meets Max und Moritz»?
Da würden sich die pädagogischen Botschaften der jeweiligen Bücher doch prima ergänzen: Jener Bub, der am Chalandamarz die kleinste Glocke hat, würde nicht nur öffentlich blossgestellt, sondern diesem Jungen würden als Strafe für die Glockenschande vom Schneider auch gleich noch beide Daumen abgeschnitten, und der Rest des Buben würde in der Dorfmühle demokratisch legitimiert zu Korn verschrotet und den Enten verfüttert. Das wäre eine Moral, die ihre pädagogische Wirkung wahrscheinlich nicht verfehlen würde.
Anja Knabenhans über die Vermarktung: Ob es an der angeblichen schweizerischen Bescheidenheit liegt oder an Restriktionen der Rechteinhaber?
Die Vermarktung des Buches erfolgt jedenfalls eher via Mund-zu-Mund-Propaganda als durch Mitten-in-die Fresse-Präsentationen. Die Ankündigung des neusten Films oder die Eröffnung des Schellen-Ursli-Hauses im Europapark waren ebenfalls kein Riesenbimbam, nur ein Bimmeln.
Die «Frozen»-Macher lachen sich schlapp darüber, wie wenig Schellen-Ursliges es zu kaufen gibt. Sie würden den Bergbuben drölftausend Mal mehr ausschlachten.
Merchandise-Artikel rund um den Schellenursli sind streberhaft oder bünzlig: Keramik-Geschirr, Dächlikappen, Stundenpläne, Zündholzschachteln, Leiterlispiele, Biberli, Holzfigürchen und so. Klingt wie Kritik, ist aber das Gegenteil. Denn weil dieser Merch-Stuff farblich dezent ist und nicht blinkt oder blökt, fällt er Kindern in den Läden weniger auf. Heisst: weniger akute Willhaberitis.
Sendung: Radio SRF 1, Treffpunkt, 27.2.2020, 10.03 Uhr.