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Die Reste eines Autos ausgebrannt auf der Strasse, Kinder und Jugendliche schauen zu, Passanten im Hintergrund.
Legende: «Es gibt keine Spielregeln», sagt Abbas Khider. Aufnahme nach einem Anschlag in Sadr City, Baghdad, vom 28. August. Keystone

Literatur Abbas Khider: «Iraks Geschichte ist eine einzige Verheerung»

In seinem neuen Roman «Brief in die Auberginenrepublik» zeichnet Abbas Khider ein düsteres Bild der arabischen Welt in den späten 1990er-Jahren. Seither sei alles nur noch schlimmer geworden, sagt der der 1973 in Bagdad geborene und seit langem in Deutschland lebende Autor.

Abbas Khider ist mittlerweile deutscher Staatsbürger – im Herbst kann er zum ersten Mal in seinem Leben wählen. Und seine autobiographisch grundierten Romane schreibt er auf Deutsch – er braucht die Distanz auch in der Sprache, um über die Odysseen von Flüchtlingen («Der falsche Inder», 2008), Haft und Folter während Saddam Husseins Diktatur («Die Orangen des Präsidenten», 2011) oder die verheerenden Auswirkungen des UNO-Embargos 1990–2003 gegen den Irak («Brief in die Auberginenrepublik», 2013) zu schreiben.

Zerstörung der Werte

«Die Geschichte des Irak in den letzten rund 30 Jahre war eine einzige Verheerung: erst der Irak-Iran-Krieg von 1980 bis 1988, dann der Krieg des Regimes gegen die irakischen Kurden 1988, schliesslich die Eroberung Kuweits 1990, gefolgt vom Eingreifen der Amerikaner und dem zweiten Golfkrieg 1991, der den Irak völlig zerschlagen hat. Gleichzeitig wurde das Handelsembargo verschärft und dauerte bis zum dritten Golfkrieg 2003 an. Und seither herrscht Bürgerkrieg. Aber so schrecklich die Kriege auch waren, das Handelsembargo war schlimmer. Es hat die irakische Gesellschaft, ihre Werte völlig zerstört: Die Menschen waren bereit, alles zu tun für ein Stück Brot.»

Das Volk als Sklave

Buchhinweis

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Abbas Khider: «Brief in die Auberginenrepublik». Edition Nautilus 2013.

Abbas Khider wurde mit 19 wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet und dann zwei Jahre lang eingekerkert und gefoltert, bis er 1996 fliehen konnte. Er ist noch heute zutiefst entsetzt darüber, wie alle Massnahmen gegen das Regime nur dem Diktator und seinen Günstlingen in die Hände spielten.

«Nach dem ersten Golfkrieg hatten die Generäle und andere aus Saddam Husseins Entourage nichts mehr zu tun. Sie hatten ja auch keine Waffen mehr, sie konnten nicht mehr kämpfen, also wurden sie alle Unternehmer. Man stelle sich das mal vor: Generäle als Unternehmer. Eine ganze Reihe der früheren Unternehmer hat Saddam Hussein Anfang der 90er-Jahre verhaften und hinrichten lassen, unter dem Vorwand, sie seien schuld an den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Plötzlich hatten wir also neue Reiche im Irak – 10 Prozent der Bevölkerung, die die restlichen 90 Prozent wie Sklaven hielten und Lockerungen des Embargos zu humanitären Zwecken, wie etwa das ‹Oil-for-Food Programme›, nutzten, um in die eigenen Taschen zu wirtschaften. Die Folgen solcher Verwerfungen prägen das Land bis heute.»

Erschöpfte Esel

Abbas Khider beurteilt die Intervention Amerikas und des Westens 2003 im Irak kritisch, als eine der typischen «schnellen Lösungen», die den historischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext des jeweils betroffenen Landes ausser Acht liessen.

«Der Westen dachte wohl, man komme in den Irak, setze sich aufs Pferd des braven irakischen Volks, reite kreuz und quer durchs Land und errichte eine Demokratie, zur Freude aller. Aber der Westen hatte vergessen, dass er zuvor 13 Jahre lang ein Handelsembargo über das Land verhängt hatte. Die Irakerinnen und Iraker waren keine kraftstrotzenden Pferde, sondern total müde, erschöpfte Esel. Kommt hinzu: Der Irak war nicht wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg umgeben von Ländern, die alle Frieden wollten – der Irak war und ist umgeben von Diktaturen. Die Anhänger Saddam Husseins konnten sich überall in den Nachbarländern neu formieren, auch mit Hilfe der Al Kaida, um dann wieder in den Irak zurückzukehren.»

Wie alte Autos

Der irakische Autor Abbas Khider mit blauem Hemd und langen schwarzen Haaren.
Legende: Abbas Khider floh 1996 aus dem Irak und lebt heute in Deutschland. Im Herbst darf er erstmals wählen. Jacob Steden

Nach Einschätzung Abbas Khiders wird die Lage im Irak immer dramatischer, den Beteuerungen der Regierung, man habe die Lage im Griff, zum Trotz.

«Alle Gruppierungen im Irak sind fremdgesteuert: Die Schiiten vom Iran, die Sunniten von Katar und Saudi-Arabien, und Kurdistan ist wie zu osmanischen Zeiten ein Supermarkt Europas, mit türkischen, deutschen und vielen anderen Investoren. Und alle wissen ganz genau, dass sie ohne ausländische Unterstützung nichts tun können. Sie sind wie alte Autos, sie brauchen immer jemanden, der schiebt. Alle sind abhängig, alle fühlen sich aber auch stark, weil sie Hilfe von aussen haben. Dabei sitzen sie alle im selben Boot und haben dieselben Probleme.»

US-Intervention in Syrien als trügerische Hoffnung für den Irak

«Die Situation im Irak ist mittlerweile so verfahren, insbesondere durch die dauernden Bombenanschläge, dass es Stimmen gibt, die eine Intervention der USA in Syrien herbeiwünschen. Alle Gruppierungen, so sagt man sich, die gegen den Einfluss der USA kämpfen, werden aus dem Irak nach Syrien abwandern, aus Damaskus ein zweites Bagdad machen, und der Irak kann sich erholen. So war es ja auch mit Jordanien während des Handelsembargos gegen den Irak. Jordanien, ein sehr armes Land, erstarkte in den 1990er-Jahren wirtschaftlich, weil es das einzige Land war, von dem aus man etwas in den Irak transportieren konnte. Kriege haben ja immer ihre Profiteure, und das sind nicht nur die Waffenhändler.»

Nur Wunden

Für Abbas Khider ist eine Verlagerung der Probleme in der Region nicht die Lösung. Das total zersplitterte Land brauche ein neues politisches System.

«Es gibt mittlerweile 120 grosse Parteien im Irak, das Regieren ist völlig unmöglich geworden, es gelingt noch nicht einmal mehr, ein einfaches Gesetz zu erlassen. Alle kämpfen gegen alle. Der Irak ist wie ein Fussballstadion: Alle wollen spielen, alle wollen gewinnen, aber es gibt keine Spielregeln. Und der Ball ist das Volk. In allen irakischen Familien gibt es Opfer: Opfer der Kriege, Opfer der Diktatur, Opfer des Bürgerkriegs. Überall Wunden. Es gibt nicht nur eine Front, das ist das Problem. Um im Irak etwas zu ändern, braucht es eine neue Kultur, die die von Saddam Hussein errichtete Gewaltkultur ablöst. Diese Gewaltkultur existiert nämlich immer noch, auch in den neuen Parteien, die in letzter Zeit immer pointierter dieselben Parolen, Symbole, Lieder und so weiter verwenden, wie wir sie aus Saddams Zeiten kennen. Auch die Schulbücher sind immer noch geprägt von den alten Fronten und Feindbildern.»

Fehlende irakische Identität

Der heutige Irak entstand gegen den Widerstand der Iraker selbst. 1919 lösten die Briten aus dem ehemaligen osmanischen Reich die Provinzen Mosul, Bagdad und Basra, vereinten sie zum Mandat Mesopotamien und machten 1921 den Haschimiten Faisal I. zum König von Irak. Erst 1958, mit Abd al-Karim Qasim, einem der Offiziere, die Faisal II. stürzten, wurde der Irak, nun eine Republik, von einem Iraker regiert.

«Abd al-Karim Qasim wurde schnell ermordet, weil er eine eigenständige irakische Identität proklamierte, und die panarabischen Nationalisten gewannen die Oberhand. Auch unter Saddam Hussein hatten die Iraker Araber zu sein, nach dem dritten Golfkrieg 2003 waren sie plötzlich Sunniten und Schiiten. Wo auch immer man heute im Irak ist, ob im Norden, Süden, Osten, Westen – man findet unendlich viele Flaggen, von verschiedenen Regionen, Parteien und so weiter, aber kaum je eine irakische.»

Spielball fremder Mächte

«Betrachtet man die Geschichte des Irak, so wurden in dem Land schon immer fremde Kriege ausgefochten, insbesondere jene zwischen Schiiten und Sunniten. Heute führen der Iran auf der einen und Katar und Saudi-Arabien auf der anderen Seite einen solchen Krieg auf dem Buckel der Irakerinnen und Iraker. Und immer geht es dabei um wirtschaftliche und politische Vorherrschaft im arabischen Raum. Es geht nicht um Religion.»

Stossend auch für Abbas Khider, dass insbesondere der Westen und die USA ein doppeltes Spiel in der arabischen Welt spielen. Als demokratische Länder, die die Menschenrechte hochhalten, liefern sie Waffen an Diktaturen, erklären je nach Bedarf Freunde zu Feinden und Feinde zu Freunden und unterdrücken säkulare Bewegungen, wenn sie eine unerwünschte politische Richtung nehmen.

«Die westliche Politik erscheint mir manchmal derart absurd, dass ich das Gefühl habe, die Politiker betrachten uns nicht als Menschen, sondern als Spielzeug. Jahrzehntelang wurden Diktaturen unterstützt, und kaum brachen in der arabischen Welt Revolutionen aus, hiess es: ‹Unsere Werte! Die wollen demokratisch wie wir werden!› Ich kann es nicht mehr hören! Warum sollen die Araber nicht endlich ihre eigene Geschichte schreiben dürfen?»

«Auf der anderen Seite diese ständige Sorge des Westens, dass in den arabischen Ländern religiöse Parteien an die Macht kommen. Was erwartet der Westen eigentlich? Er hat doch im Kalten Krieg selbst dafür gesorgt, dass säkulare und demokratische Kräfte ausgeschaltet wurden. Es sind nur die Diktaturen und Islamisten übrig geblieben. Und wenn die Diktaturen weg sind, übernehmen die islamistischen Parteien, das ist doch klar. Die jungen Menschen, die die Revolutionen anstiessen, wollen nur ein normales Leben führen, sie haben keine politische Vertretung, woher denn? Im Irak ist es nicht anders. Als es während und kurz nach dem zweiten Golfkrieg 1991 zu Aufständen kam und Saddam Hussein kaum noch Unterstützung in der Bevölkerung hatte, waren weder der Westen noch Saudi-Arabien bereit, eine schiitische oder kurdische Regierung im Irak zu unterstützen. Das heisst: Normale Entwicklungen in der arabischen Welt werden immer gestoppt.»

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