Ein ehemaliger Literaturprofessor und Schriftsteller verlässt seine Frau und sein Zuhause in der Schweiz, um in Berlin ein neues Buch zu schreiben. Zuvor hat er beschlossen, seine Krebsbehandlung abzusetzen. Dafür aber haucht er einer Figur, die er in einem früheren Roman «Sutters Glück» sterben liess, in seinem neuen Buch ein zweites Leben ein.
Wer Adolf Muschg kennt, wird im Plot seines neuen Romans «Aberleben» einiges wiedererkennen: Auch Muschg war Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Den Roman mit dem Titel «Sutters Glück» hat er vor rund 20 Jahren selbst geschrieben.
Die Hauptfigur A. in «Aberleben» ist also eine Art Alter Ego, ein Doppelgänger von Muschg. Überhaupt spielt der Roman ganz bewusst damit, was wirklich und was erfunden ist. Immer wieder werden Erzählebenen gebrochen. Etwa wenn Figuren, die in dem fiktiven Roman von A. vorkommen, plötzlich leibhaftig vor A. stehen.
Keine einfache Lektüre
An einer Stelle lässt Muschg seine Hauptfigur darüber sinnieren, dass sein letztes Buch «zwar gelobt, doch nur mässig verkauft worden war.» Die Aussage trifft etwas an Muschgs Schreiben auf den Punkt: Nur weil ein Roman aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gut gemacht ist, heisst das nicht, dass er auch gerne gelesen wird.
In «Aberleben» ist es die schiere Fracht an literaturwissenschaftlichen Themen, Motiven, Figuren und Doppelfiguren, die die Lektüre erschweren. Hinter all diesem Überbau verlieren die Figuren, die regelmässig aus dem Stegreif Goethe, Schiller oder mittelalterliche Minnesänge zitieren, an Glaubwürdigkeit.
Dass Muschgs Romane keine einfache Lektüre sind, ist bekannt. Sie werden gerne als «Professorenromane» bezeichnet, leider nicht immer im besten Sinne. Die komplizierten Handlungen verlangen von den Leserinnen und Leser einiges an Vor- und Mitarbeit ab. Das ist auch in «Aberleben» nicht anders.
Muschg präsentiert sich darin erneut als grosser Goethe-Fan und setzt viel Kenntnis etwa von «Faust» oder dem Bildungsroman «Wilhelm Meisters Lehrjahre» voraus.
Kanon vs. Cancel Culture
Diese literarischen, fast literaturwissenschaftlichen Verweise wären ja noch das eine. Befremdend unzeitgemäss hingegen lesen sich die Inszenierungen dieses pfeiferauchenden Schriftstellers, dem Muschg so deutlich seine eigenen Züge gibt. Überall begegnet A. ihn verehrende Leser. Weibliche Anhängerinnen lassen der Reihe nach die Hüllen fallen, um den betagten Autor näher kennenzulernen.
Darüber entsteht das Bild eines Autors, der sich in seiner intellektuellen Rolle vor allem selbst gefällt. Kritik an seinen Aussagen will er entweder nicht hören oder winkt sie ab. Erst vor wenigen Monaten stand Muschg aufgrund seines Vergleiches der Cancel Culture mit Auschwitz in der «Sternstunde Philosophie» in Kritik.
Diese Haltung spiegelt sich auch in der Form des Romans wieder: Man wird das Gefühl nicht los, dass hier ein Autor mehr mit seinem kanonischen Wissen prahlt, als dass er der Beschäftigung mit dem Tod wirklich eigene, tiefere Einsichten abgewinnt.