700 Seiten umfasst der neu erschienene Band, in dem erstmals alle Erzählungen von Adelheid Duvanel veröffentlicht werden. Was als Erstes auffällt, wenn man sich in ihre Texte vertieft, ist die enorme Qualität. Da stimmt jedes Wort, jedes Bild, jede Formulierung. Und nie ist etwas zu viel. «Das Getüm» zum Beispiel beschreibt in wenigen Sätzen ein ganzes Leben.
Formulierungen wie «Am Samstag bin ich immer suizidal» oder «Der Ältere war ein stiernackiger Mensch, Kassierer in einer Bank, am Sonntag Porträtist von Frauen, die er als Pferde oder Bassgeigen malte», öffnen Welten und ziehen einen sofort hinein.
Heil ist hier nichts
Duvanels Welten sind nicht heil. Im Gegenteil. Ihre Geschichten erzählen von Menschen, die sich nicht an das Hiersein gewöhnen können oder aus der Welt gefallen sind.
Sie erzählen von einsamen, schrägen und manchmal zutiefst verzweifelten Menschen am Rande der Gesellschaft, deren Platz die Geschichten selbst sind. In den Gegenwelten, die ihnen Duvanel zugesteht.
So treffen wir Jakob, der sich täglich eine Eigenbrötlersuppe kocht. Oder Stefanie, die ein Buch schreiben will, aber noch nie etwas Interessantes erlebt hat und sich auf ihre Fantasie besinnt. Und wir begegnen Taddea, dem Mädchen, das nachts am Fenster steht und auf die Mutter wartet, bis es vor Sehnsucht und Einsamkeit aus dem Fenster fällt.
Doch Duvanel erzählt ohne Larmoyanz. Ihre Figuren sind keine Opfer. Ihre Texte keine sozialen Anklagen. Sie zeigt das Leben, wie es ist. Oder wie es ihr erscheint.
Die Klinik und der Kunstmaler
Geboren wird Adelheid Duvanel 1936 in Pratteln (BL). Schon als Kind schreibt und zeichnet sie. Nach einem Jahr in einem Mädcheninternat folgt ein erster Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik.
Danach macht sie eine Lehre als Textilzeichnerin und beginnt gleichzeitig ernsthaft zu schreiben und zu malen. Die Malerei gibt sie nach der Heirat mit dem Kunstmaler Joe Duvanel wieder auf. Er duldet keine kreative Konkurrenz.
Erste Texte veröffentlicht sie ab den frühen 1960er-Jahren im Sonntagsblatt der Basler Nachrichten. Später folgen Publikationen in Anthologien und Erzählbänden. Auf Vermittlung des Schriftstellers und Lektors Otto F. Walter landet sie schliesslich beim Luchterhand-Verlag, wo mehrere Erzählbände erscheinen.
Tod durch Erfrieren
Die späten Jahre sind geprägt von beginnendem Erfolg mit diversen Auszeichnungen und persönlichen Katastrophen. Joe Duvanel, damals bereits von Adelheid geschieden, nimmt sich 1986 das Leben. Ein Jahr zuvor wird bei ihrer drogenabhängigen Tochter eine HIV-Infektion festgestellt.
Ab 1981 ist Adelheid Duvanel regelmässig in stationärer psychiatrischer Behandlung. Sie stirbt 1996 in einer aussergewöhnlich kalten Julinacht in einem stadtnahen Wald an Unterkühlung. Ob Suizid oder Unfall bleibt ungeklärt.
Zwischen Walser und Kafka
Was aber bleibt, ist ihr Werk. Zu Recht gilt Adelheid Duvanel heute als eine der bedeutendsten literarischen Stimmen der Schweiz. Ihre Verwandtschaft zu Robert Walser ist angesichts der Nähe zur Psychiatrie nicht zu übersehen.
Die zu Franz Kafka erschliesst sich aus der Lektüre von Duvanels fantastischen Kurzgeschichten, deren Wiederentdeckung wir dem mutigen Engagement des Zürcher Limmatverlags zu verdanken haben. Und ein bisschen auch dem Vorlesetag auf SRF 2 Kultur.
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