Die 40-jährige Amalia reibt sich an den Herausforderungen des Lebens und ihren hohen Ansprüchen an sich selbst auf. Ihre Firma fordert Agilität, Flexibilität und Elastizität – hübsche Euphemismen für zusätzliche, unbezahlte Aufgaben.
Auch zu Hause kümmert sich Amalia um alles. Dass das Haus sauber und aufgeräumt ist. Dass das Essen bereitsteht und der Müll getrennt wird. Zum Glück gibt es Pillen, die dem Organismus den notwendigen Boost geben, um unter Druck zu bestehen. Doch dann kippt Amalia während einer Zoom-Sitzung einfach vom Hocker.
Vom Leben gezeichnet
Aude Picault, 1979 geboren, gehört zu den profiliertesten Comic-Autorinnen Frankreichs. Ihr Interesse gilt seit ihren Anfängen dem Alltäglichen. Ihre ersten Comics waren autobiografisch. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie durch den Comicstrip «L'air de rien» in der Tageszeitung Libération bekannt.
Ihren Durchbruch erlebte die Zeichnerin 2017 mit der Graphic Novel «Ideal Standard». Darin umkreist sie sexistische Stereotypen und Rollenbilder.
Die etwa 30-jährige Krankenschwester Claire liebt zwar ihren Job und ihre Unabhängigkeit. Dennoch gibt sie dem gesellschaftlichen Druck zur Familiengründung nach und stürzt sich in eine Beziehung, die sich bald als emotional unbefriedigend erweist.
Authentische und vielschichtige Frauenfiguren wie Claire und Amalia zu erschaffen, gehört zu den Spezialitäten der Französin.
Subtile Systemkritik
Im Fall von Amalia ging Aude Picault zunächst von sich selbst aus. Den Erschöpfungszustand kenne sie selbst nur zu gut, räumt sie im Gespräch ein.
Allerdings geht Picault einen Schritt weiter: Sie schafft eine verblüffende Parallele zwischen Amalias individueller Erschöpfung und der ökologischen Erschöpfung unseres Planeten, beides die Folge, so Picault, «unseres produktivistischen Systems».
Amalias Ehemann Karim arbeitet in einer Grossbäckerei, die mit überzüchtetem Getreide Brot produziert. Dieses Getreide wird von einem Parasiten angegriffen. Gegen diesen kämpft man mit Pestiziden. Allerdings vergeblich: Der Weizen bleibt krank. Dafür ist das Grundwasser der Region vergiftet.
Geschichten statt Aktivismus
Ausgehend von alltäglichen Beobachtungen umkreist Aude Picault in ihren Graphic Novels klug und kritisch dringliche gesellschaftliche Themen. Militanz sucht man bei ihr vergebens. Sie ist eine Geschichtenerzählerin, keine Aktivistin.
Die Französin vertraut auf ihre Figuren und ihre Beziehungen untereinander und konfrontiert sie mit Konflikten, die aus dem Leben gegriffen sind.
Stilisiert und schwerelos
Ihre Geschichten verwebt Aude Picault erzählerisch, aber auch zeichnerisch mit Leichtigkeit und Humor. Ihre Zeichnungen sind reduziert, stilisiert, leicht karikierend. Die Eleganz, Tiefe und Resonanz erinnern an Sempé und Claire Brétécher, die erste Feministin des Comics.
Behutsam eingesetzte Farbtöne unterstreichen Stimmungen oder machen Träume und Gedanken sichtbar. Die feinen Federzeichnungen scheinen auf dem Papier zu schweben.
So entwickelt die Geschichte einen dynamischen Sog, bis Amalia und ihre Familie nach vielen Umwegen Auswege aus ihren diversen Krisen gefunden haben. Wie nachhaltig dieses neue Lebensglück ist – das lässt Picault allerdings offen.