Indien: Dabei denken wir an leckeres Essen, Farbenpracht, chaotische Städte, Yoga, Gandhi, Bollywood und Informatik.
Arundhati Roy hat andere Assoziationen. Sie ist so etwas wie das schlechte Gewissen Indiens – und vielleicht der ganzen Welt. Immer wieder zeigt sie, wie viel Gewalt und Unterdrückung es in ihrem Land gibt.
Das tat sie bereits vor zwanzig Jahren, mit ihrem Weltbestseller «Der Gott der kleinen Dinge». Und auch jetzt wieder, mit ihrem zweiten Roman, der pünktlich zur 70-Jahr-Feier der indischen Unabhängigkeit erscheint: «Das Ministerium des äussersten Glücks».
Stimme der Aussenseiter
Dazwischen hat sich die Globalisierung- und Kapitalismuskritikerin mit zahlreichen Essays für die Aussenseiter und Unterdrückten engagiert: Sie erhob ihre Stimme für die «Adivasi», die indigene Landbevölkerung Indiens, ebenso wie für die «Dalits», die Unberührbaren des indischen Kastenwesens.
In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch Mahatma Gandhi. Roy zufolge war Gandhi «nie ein Befürworter des radikalen gesellschaftlichen Wandels zugunsten der Schwachen und Armen. Er war der Bewahrer, der Heilige des Status quo.»
In Südafrika habe er sich für die Rassentrennung eingesetzt und in Indien für das Kastensystem. Dieses bestimmt in ländlichen Regionen noch heute die Partner- und Berufswahl.
«Eine unheilige Allianz»
Heute befinden sich die allermeisten Unternehmen Indiens, so Roy, in den Händen von Familien der Händler-Kaste.
Die unheilige Allianz zwischen Kapitalismus und Kastensystem habe die soziale Ungleichheit verstärkt. Heute müssen 80 Prozent der Menschen in Indien mit weniger als 2 Dollar am Tag leben – trotz einem Wirtschaftswachstum von knapp 7 Prozent.
Auch im 21. Jahrhundert müssen die als unrein geltenden «Unberührbaren» den Kot anderer Menschen mit den blossen Händen wegtragen. Es sterben mehr Menschen in der Kanalisation als in Kaschmir, wo sich Muslime und Hindus seit Jahrzehnten auf grausame Weise bekämpfen.
Gespaltenes Land
Roy ist der Ansicht, dass ihr Land das Trauma der schmerzvollen Trennung von 1947 nie überwunden hat. Damals teilte sich die Nation in ein muslimisches Pakistan und ein mehrheitlich hinduistisches Indien.
Derzeit befeuere die Regierung unter Premierminister Narendra Modi wieder den Hass gegen Muslime. Das gehe so weit, dass Muslime auf offener Strasse gelyncht werden, nur weil sie Rindfleisch essen.
Modi selbst ist Mitglied der radikal-hinduistischen Kaderorganisation RSS, die aus dem religiös und kulturell vielfältigen Indien einen einheitlichen Hindu-Staat machen möchte. Dafür gehe er über Leichen und baue die grösste Demokratie der Welt gerade in eine Diktatur um, so Roy.
Indien inspiriert sie – trotz Elend
Klar hat sie Angst. Nicht nur um ihr Land, sondern auch um sich selbst. Denn immer häufiger werden Journalisten und Schriftstellerinnen ermordet, die sich gegen die Regierung stellen. Darunter auch Freunde von Roy.
Trotz der frappierenden Gewalt und der vielen Ungerechtigkeiten hat sie ihr Land bisher nicht verlassen. Roy findet auch inmitten des Elends und der Unterdrückung immer wieder Momente der Menschlichkeit, der Poesie und Schönheit. Das zeigen ihre beiden Romane.
Noch immer sei Indien ein Land mit einer wundervollen Vielfalt an Kulturen und inspirierenden Weisheitstraditionen, meint sie. Ein Land, dessen Menschen noch nicht alle dem Konsumwahn verfallen sind. Dafür liebt sie Indien. Bis jetzt.