Vor 1000 Jahren waren Klosterschulen so etwas wie Universitäten. Das Kloster St. Gallen gehörte zur Elite. Es war «das Harvard des Mittelalters», sagt Cornel Dora, Stiftsbibliothekar in St. Gallen, mit einer gehörigen Portion Lokalpatriotismus.
Die Schüler büffelten Rhetorik, Didaktik, Musiktheorie und natürlich Theologie. Doch im Kloster St. Gallen war etwas anders. Statt Latein war Deutsch zu hören. Denn der Lehrer, Mönch Notker, war überzeugt: Wer komplizierte Sachverhalte verstehen will, muss sie in seiner Muttersprache lernen.
Notker war der erste, der das lateinische Unterrichtsmaterial für seine Schüler auf Deutsch übersetzte. Genauer gesagt in den lokalen Dialekt. Zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch wurde damals noch nicht unterschieden. Heute sagt man zu der Sprache, die Notker verwendete, «Althochdeutsch».
Wie Deutsch zur Wissenschaftssprache wurde
Um die wissenschaftlichen Texte zu übersetzen, musste Notker viele Wörter neu erfinden, sagt Cornel Dora: «Deutsch war bis dahin eine Alltagssprache – mit präzisen Begriffen für das Melken oder die Weizenernte. Wörter für komplizierte Zusammenhänge und philosophische Gedanken aber fehlten.»
Notker hat damit Deutsch als Wissenschaftssprache erfunden. Er hat seine Übersetzungen nicht nur aufgeschrieben, sondern auch mit Akzenten versehen. Daher wissen wir heute, wie Notker und seine Schüler damals gesprochen haben.
In einem Text über Musiktheorie fordert Notker seine Schüler etwa auf, die Grössen (massa) der Orgelpfeifen (svegula) zu lernen: «Sid tu nu bekennest wio alle die svegula ein anderen encheden, so ne bedriese dich ouch iro massa zelirnenne.»
Er erkannte das Genie in Aristoteles
Notker erfand nicht nur neue Unterrichtsmethoden und eine neue Art Deutsch. Er war auch der erste, der im Mittelalter Aristoteles übersetzte. Zuvor war der antike Philosoph für rund 500 Jahre in Vergessenheit geraten. Mit seiner Wiederentdeckung von Aristoteles war Notker seiner Zeit weit voraus.
Erst 100 Jahre später fanden Aristoteles Theorien breitere Beachtung. Aristoteles’ Fokus auf Logik und seine Einteilung der Welt in Kategorien legte die Grundlage für unsere heutige, auf Wissenschaft basierende Gesellschaft.
Bücher im Mittelpunkt
Der St. Galler Mönch war also in vielerlei Hinsicht ein Pionier. «Ein Gigant», wie es Stiftsbibliothekar Cornel Dora ausdrückt, «der bedeutendste Deutschübersetzer vor dem Reformatoren Martin Luther.» Die Stiftsbibliothek St. Gallen widmet ihm deshalb nun ihre Sommerausstellung. In Vitrinen im Barocksaal des ehemaligen Klosters liegen alte Handschriften mit Notkers Werk.
Das Buch steht im Zentrum der Ausstellung. Bilder von Notker, Gegenstände, die sein Wirken fassbar machen, sucht man vergebens. Denn abgesehen von seinen Werken und seinem Tod – dahingerafft von einer Seuche im Juni 1022 – weiss man relativ wenig über den Ausnahmemönch.
Wer also fasziniert ist von fast 1000 Jahre alten Büchern – in denen man das eine oder andere Wort entdeckt, das man versteht – kommt in der Ausstellung voll auf seine Kosten. Für alle anderen gibt es Führungen, die Notkers Leben und Wirken näherbringen.