Dass er ein geübter Provokateur ist, hat Ai Weiwei schon oft bewiesen – mit spektakulären Kunstaktionen, aber auch in Interviews, in denen er dem Westen Faulheit und Selbstzufriedenheit vorwarf.
Nicht so in Berlin. Bei der Lesung im Theater am Schiffbauerdamm steht sein neues Buch «1000 Jahre Freud und Leid» im Vordergrund.
Ai Weiwei schildert seine Familiengeschichte: «Im Herbst 1968 zwang uns die Betriebsleitung, als wolle sie eine klare Trennlinie zu dem ‹grossen Rechtsabweichler› ziehen, erneut umzuziehen: diesmal in ein diwōzǐ, ein nicht mehr genutztes Erdloch.»
Aufwachsen in der Erdhöhle
Sein Vater Ai Qing war in den frühen Jahren der Volksrepublik ein gefeierter Dichter und Vertrauter Mao Zedongs. Später fiel er in Ungnade und wurde mit seinen Söhnen in den äussersten Nordwesen des Landes deportiert.
«Solche Erdhöhlen waren die primitiven Behausungen der ersten Pioniere in diesem Teil von Xinjiang. Unseres hatte die Form eines quadratischen, in die Erde gegrabenen Lochs, mit einem primitiven Dach aus Tamariskenzweigen und Reisstängeln, abgedichtet durch mehrere Schichten grashaltigen Lehms.»
Erniedrigung war der Normalzustand
Die Schilderungen sind anschaulich. Ai Weiwei war zehn Jahre alt, als sein Vater einer paramilitärischen Produktionseinheit zugeteilt wurde und dort Latrinen putzen musste.
Der Westen spielt Schach, China spielt Go.
Bei der Lesung in Berlin berichtet er im Gespräch mit Daniel Kehlmann, dass er die Demütigungen seines Vaters nur deshalb ertrug, weil er damals noch jung und dumm gewesen sei. Die permanente Erniedrigung sei für ihn schlicht der Normalzustand gewesen.
«Dass wir unter der Erde hausen mussten, bestrafte meinen Vater, und es diente darüber hinaus den Notwendigkeiten des politischen Kampfs», steht in seinem Buch.
«Reaktionäre wie wir gehörten einer von den revolutionären Massen separaten Kategorie an, und unsere Lebensumstände mussten dies widerspiegeln.» Doch je älter Ai Weiwei wurde, desto mehr begann er kritisch zu denken.
«In China herrscht Misstrauen»
Sein Buch beschreibt diesen Prozess der Bewusstwerdung. Gleichzeitig berichtet es über die politischen Kampagnen Mao Zedongs und seiner Nachfolger. Es wird deutlich, wie China zu dem wurde, was es heute ist – einer Diktatur, die zwar technischen Fortschritt zulässt, aber keine Meinungsfreiheit.
Im Gespräch mit Daniel Kehlmann weist Ai Weiwei darauf hin, dass China das Erbe der Kulturrevolution noch nicht überwunden hat. «Es herrscht ein allgemeines Misstrauen. Die Leute denunzieren sich gegenseitig, weil sie sich davon Vorteile versprechen. Die gesamte Gesellschaft wird überwacht und nichts deutet darauf hin, dass sich das jemals ändern wird.»
Deshalb warnt Ai Weiwei den Westen: «China ist auf dem Weg zur führenden Supermacht der Welt zu werden. Es denkt langfristig und strategisch, während es dem Westen um die unmittelbare Konkurrenz geht. Das ist ein anderes Spiel. Der Westen spielt Schach, China spielt Go.»
Ein Buch gegen das Vergessen
Ai Weiwei gehört heute zu den bekanntesten chinesischen Dissidenten. Das Schicksal seines Vaters hat sich bei ihm wiederholt. Er wurde zwar nicht verbannt, aber unter fadenscheinigen Begründungen unter Hausarrest gestellt und 2011 inhaftiert.
Im Gefängnis beschloss er, seine Autobiografie zu schreiben und darin auch an seinen Vater zu erinnern. Der Titel «1000 Jahre Freud und Leid» stammt aus dessen Gedichten. «Ihr, die ihr lebt in der Fülle, hofft nicht, dass die Erde Erinnerung bewahrt», heisst es dort.
Doch Ai Weiwei will die Erinnerung bewahren – und das gelingt ihm in diesem hoch spannenden, zugleich persönlichen und politischen Buch.