Die Argonauten müssen auf ihrer jahrelangen Jagd nach dem Goldenen Vlies so viele Hindernisse überwinden, dass ihr Schiff, die sagenhaft schnelle «Argo», am Schluss fast nur noch aus Ersatzteilen besteht. So erzählt die griechische Mythologie.
Die amerikanische Essayistin und Lyrikerin Maggie Nelson bezieht sich für den Titel ihres neuen Buches auf diesen Mythos. Damit zielt sie mitten ins Herz ihres Themas: «Queerness» kann bedeuten, seinen Körper radikal verändern zu lassen, um erst so die eigene wahre Geschlechtsidentität zu finden.
Veränderte Körper
Nelson erzählt vom «Sommer unserer veränderten Körper»: Sie war selbst im fünften Monat schwanger und ihr Partner, der Künstler Harry Dodge, nahm seit sechs Monaten Testosteron. Nelsons Schwangerschaft war mit Hilfe von Spender und in-vitro-Befruchtung entstanden.
Harry war als Frau geboren worden und hatte mittlerweile durch Hormone und Operation einen männlichen Körper. An einem Abend bald nach der Operation sassen sie zusammen im Restaurant. Der Kellner erzählte ihnen von seiner Familie, während er fröhlich nach Maggies und Harrys zukünftiger Familie fragte.
Queerness heute
Harry identifiziert sich selbst allerdings weder als Mann noch als Frau, sondern spricht von einer «fluiden» Geschlechtszugehörigkeit. Dies Selbstverständnis hat im heutigen Begriff von «Queerness» Platz.
Was vor einiger Zeit eine alles andere als freundlich gemeinte Bezeichnung für Homosexuelle war, beschreibt inzwischen sexuelle Orientierungen jenseits aller Kategorien – und darüber hinaus Lebensweisen, die in keine Norm passen.
Verweigerung der Norm
Ihr Sprechen über Alltag, Sexualität, Mutterschaft verschränkt Nelson in einem locker assoziativen Essaystil mit komplexer Gendertheorie und gesellschaftspolitischen Überlegungen. Immer geht es um die Verweigerung, sich selbst für starre Kategorien passend zu machen.
«Queer» beschreibt die harte Arbeit, sich den wahren Impulsen der eigenen Lebendigkeit zu stellen – auch wenn sie völlig «quer» stehen zur gesellschaftlichen Normalität.
Genderqueere Familiengestaltung
Über Gender und über strukturelle Gewalt hat Maggie Nelson schon viel nachgedacht: in Gedichten und Sachbüchern.
Im nun vorliegenden Buch tut sie das auf eine Weise, die sich faszinierend zwischen Essay und Autobiographie hindurchschlängelt. Minutiös erzählt und kommentiert sie ihre «genderqueere Familie», zu der auch noch ein Sohn aus Harrys früherem Leben gehört.
Vom Recht aufs Ich
Wie in jeder Familie geht es auch bei ihnen um Liebe, Fürsorge und Fairness – aber es geht auch um das Recht aufs eigene Ich.
«Ich werde mein Kind spüren lassen, wo Ich und Nicht-Ich beginnen und enden, und ganz gleich welcher Wut standhalten, die sich daraus ergibt. Ich werde geben, so viel ich habe, ohne mein eigenes Ich aus den Augen zu verlieren.»
Maggie Nelson hat ein hochspannendes Buch über Freiheit und Identität geschrieben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 14.11.2017, 07:20 Uhr