Ruhig und konzentriert wägt der 73-jährige Abdulrazak Gurnah seine Worte ab im Gespräch einem Zürcher Hotel. Der aus Tansania stammende und seit Jahrzehnten in Grossbritannien lebende Autor ist auf Lesereise. Es bleibt noch etwas Zeit bis zum Auftritt.
Gurnahs Blick ist ernst, er spricht zurückhaltend und frei von Allüren. Immer wieder blitzt aber Schalk auf. Das erste Mal, als er von jenem 7. Oktober im vergangenen Jahr erzählt, als in seinem Haus im britischen Canterbury kurz vor 12 Uhr mittags das Telefon läutete.
Eine Männerstimme habe ihm mitgeteilt, er gewinne den Nobelpreis. «Ich dachte, da will mich jemand auf den Arm nehmen.»
Begehrter Preisträger
Mit der Ruhe in seinem Leben sei es seither vorbei, schmunzelt er. Er eile von einem Interview zum anderen, von einer Lesung zur nächsten: «Ich mag den Kontakt mit Leserinnen und Lesern in ganz unterschiedlichen Kulturräumen.»
Literatur kann uns dabei helfen, die Umstände, in denen wir leben, besser zu verstehen. Und auch uns selbst.
Bei Auftritten in Afrika erlebe er regelmässig eine eigentliche Feststimmung: «Ich spüre im Publikum ein Wir-Gefühl, wonach nicht ich allein geehrt worden bin, sondern ganz Afrika. Diese Verbundenheit verbreitet Freude.»
Das globale Chaos
Der Kern von Abdulrazak Gurnahs literarischem Werk sind die zehn Romane, die er seit seinem Debüt 1987 veröffentlicht hat, in denen er sowohl historisches Geschehen als auch unsere Gegenwart schildert.
Gurnah schreibt vom Kolonialismus, von den bis heute nachwirkenden Gräueltaten der Europäer, von Flucht und Vertreibung, von Völkermord. Seine Perspektive ist eine afrikanische: «Ich will zeigen, wie sich der Kolonialismus für die Betroffenen anfühlt.»
Die Bücher erzählen aber auch von der universellen Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Geborgenheit. Und von der damals wie heute verbreiteten Hoffnung der Millionen von Ohnmächtigen des globalen Südens, im reichen Norden eine Zukunft zu finden.
Und die dann nur zu oft einen hohen persönlichen Preis bezahlen, wenn sie sich etwa Schleppern anvertrauen oder in der Fremde keine Wurzeln schlagen können. Der Mensch im globalen Chaos – das ist es, worum es Abdulrazak Gurnah geht.
Kindheit im «globalen Dorf»
Dabei schöpft der 1948 auf Sansibar geborene Autor in vielem aus eigenen Erfahrungen. In seiner Kindheit erlebte er eine Art Globalisierung im Kleinformat: «Sansibar war seit Jahrhunderten ein kultureller Schmelztiegel, in dem sich Menschen unterschiedlichster Herkunft und Prägung begegneten.»
Dies habe in ihm schon früh einen Kosmopolitismus ausgeprägt. Mit 18 Jahren floh Gurnah aus dem korrupten und instabilen Tansania nach Grossbritannnien. Er erlebte am eigenen Leib, was es hiess, Migrant zu sein, auf sich allein gestellt, oft mehr geduldet als geliebt. «Ich kann mich aber an manche Britinnen und Briten erinnern, die mir beigestanden haben. Und die an mich geglaubt haben.»
Vom Geflüchteten zum Geehrten
Die Migration geriet für ihn zuletzt zur Erfolgsgeschichte: Studium, Karriere als Literaturwissenschafter, Professor, Schriftsteller, Nobelpreis.
Die hohe Auszeichnung, ändere nichts daran, dass seine Bücher die Welt nicht besser machen können: «Immerhin kann uns Literatur aber dabei helfen, die Umstände, in denen wir leben, besser zu verstehen. Und auch uns selbst.»
Sagt’s und verabschiedet sich. Freundlich und ernst. Der Auftritt vor Publikum steht an.