Arno Geiger ist ein grosser Name am österreichischen Literaturhimmel – und darüber hinaus. Sein neustes Werk «Das glückliche Geheimnis» ist autobiografisch. «Das ist meine Geschichte», sagt er.
Im Buch wartet Geiger mit Verblüffendem auf: Über 25 Jahre lang durchwühlte er in Wien in der Strasse stehende Altpapiercontainer – auf der Suche nach alten Büchern, Zeitungen und Briefen, die er nach Hause trug. Kistenweise.
Süchtig nach Abfall
Geiger schildert, wie er als junger Student eines Tages zufällig auf die Altpapier-Behältnisse im Quartier aufmerksam wurde. Sie entpuppten sich als regelrechte Schatzgruben. Kostenloser Lesestoff: Zeitungen, Sachbücher, Romane.
Der Autor begann mit regelmässigen Abfalltouren, meist in den frühen Morgenstunden. Sie gerieten zur Gewohnheit, zur Sucht. Zunehmend interessierten ihn persönliche Briefe, in denen wildfremde Leute in ihr Denken und Fühlen Einblick gaben. Die Briefe lieferten Inspiration für Romanfiguren.
Frei und ein bisschen schmutzig
Die heimlichen Abfalltouren boten aber auch eine Möglichkeit, aus seiner bürgerlichen Existenz auszubrechen. Für ein paar Stunden pro Woche «ein Vagabund» sein, «ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts». Auf der Strasse fühlte er eine Freiheit, die er nicht kannte.
Die Freiheit war zugleich eine körperliche Erfahrung: Die weitläufigen Runden durch die Stadt waren kräftezehrend: sich in die Behältnisse beugen, in sie abtauchen, sackweise Material schleppen. Beim Durchwühlen des Abfalls machte sich «der Mann der Schrift» schmutzig. Sein «Räuberzivil» tarnte ihn so sehr, dass ihn erstaunlicherweise nie jemand erkannte.
Ein prägendes Doppelleben
Arno Geiger verstand es, sein Geheimnis über die Jahre zu hüten. Er «spürte (…) Scham», weil er seine «sozialen Selbstansprüche» verletzte. Insbesondere seinen Eltern gegenüber. Sie werden im Laufe des Buchs alt und pflegebedürftig.
Ihnen gegenüber hatte Arno Geiger oft ein schlechtes Gewissen, hatten sie doch manche Opfer erbracht, damit er studieren konnte. «Dass ich mich jetzt Teilzeit in die Gosse warf, empfand ich (…) insgeheim als Grenzüberschreitung nach unten.»
An dieser und an manch anderer Stelle zeigt das Buch, wie sehr das Doppelleben Arno Geigers Biografie formte, in ganz unterschiedlicher Hinsicht. Nicht nur prägte es das Verhältnis zu den Eltern und beflügelte die Schriftstellerei. Es beförderte auch seine grosse Liebe. Sie allein wusste um die Touren. Und das gemeinsame Geheimnis verband.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Buch eines Lebens
«Das glückliche Geheimnis» ist ein wunderbares Buch, weil es vieles verbindet. Es erzählt von einem überaus eigenwilligen Doppelleben, von einem Sohn, der seine Eltern bis ins hohe Alter begleitet, von einem Liebenden, der die Frau seines Lebens findet und von einem Künstler, der seinen Weg sucht – und ihn auch dank Müll findet.
Es sei «wunderschön», gesteht Arno Geiger, «endlich über das Geheimnis schreiben zu können.» Das Erzählen sei dessen Abschluss: «Mich in aller Offenheit und auch aller Verwundbarkeit hinzustellen – darauf habe ich lange gewartet.»