Der See, die Häuser, die Brücken
An Zürich gefällt mir nicht ein bestimmter Ort. Es ist eine vom Sommer erleuchtete Strecke, die mich verzückt. Die Tramlinien, die an einer Stelle zusammenfinden – wie die Füsse einer Tänzerin, wenn sie Pirouetten dreht. Die Tramlinien, die ins Grüne in der Nähe des Bellevue führen, zum Wasser, zu den Hügeln, zu den Schiffen und den Schwänen. Sie führen zu geneigten Pflastersteinstrassen, die umgeben sind von Balkonen mit eisernen Geländern, von kleinen Strassenlaternen, von Kletterpflanzen und von Brunnen – diesen unermüdlichen, beständigen Schönheiten.
Das standhafte Zürich
Was mir an Zürich gefällt, sind die welligen, verschwommenen grün-grau-bläulichen Linien der Hügel, die ich vom Fenster der Autorenresidenz aus sehe. Ich mag den Morgen auf dem Balkon, der sich direkt über dem Gewächshaus befindet, das einen weissen Duft versprüht. Ich mag den friedlichen Lärm von Füssen, die Fussbälle treten, die Brüstung, die sich langsam erwärmt, die Grillen, die am Abend zirpen und die Glühwürmchen, die weit entfernte Leben schützen. Die Schönheit der Hegibachstrasse ist standhaft, unverrückbar – eine Art Schönheit, die Zürich fast immer ausstrahlt.
Ein Ort zum Verlieren
Bei der schwindelerregenden Geometrie von Picabias Werk hat man das Gefühl, am Abgrund zu sein: Die Retrospektive seines Werks im Kunsthaus Zürich zeigt die Entwicklung seines Schaffens. Seine Anfänge, als er die Meister des Impressionismus und des Fauvismus imitierte, seine umstrittenen Werke, die er zur Zeit des Faschismus malte, aber vor allem Werke aus der Periode, für die er berühmte wurde. Als er die Materie dank der Farben zum Leben brachte. Tanzende, liebende, Körper, die riesig werden, geheime Städte, die sich öffnen, unendliche Wege, die noch weiter führen. Die Gemälde von Picabia sind wie ein Ort, ein Raum, in dem wir uns verlieren – wie in einem Labyrinth aus Farben und Formen.
Der Triumph des Lebens
Manchmal definiert sich Raum auch durch Zeit. Die Streetparade hatte die Strasse zwischen dem Central und Bellevue, die am Rathaus und Helmhaus vorbeiführt, verändert. Der Weg war wie ein Fluss aus Körpern, die befreit wurden, frei waren. Ein Fluss aus Männern, Frauen, Kindern, Jung und Alt, Verkleideten, Geschminkten, Entblössten, Schweizern, Deutschen, Franzosen, Italienern, Spaniern, Amerikanern, Afrikanern – aus Menschen aller Nationen. Der Weg glich einem Jungbrunnen. Die Streetparade als Triumph des Lebens, als Recht zu singen, zu tanzen, zu trinken, zu rauchen, zu essen, zu küssen, die Menschen zu lieben, die man will – in der Sonne und auf der Erde. Ein Stinkefinger gegen die schändlichen Drohungen des Todes.
Eine Nische im «Café Odeon»
Das «Café Odeon» hat seine Terrasse und seine Sommerkundschaft. Nah am Fenster hab ich meinen Lieblingsplatz gefunden: Eine Nische, die zwei gegenüberliegende Sessel bilden – versteckt hinter einer dunklen Holzsäule. Dort kann man gut lesen, einen Schokoladenkuchen mit Schlagsahne und dazu ein Glas Chardonnay geniessen. Und wenn in Stimmung ist, kann man gar sein holpriges Deutsch mit den Kellnern üben. Als die Streetparade zu Ende ging, sass im Odeon ein Herr. Ein gefallener Engel in einem auffälligen Sambakostüm. Er hatte seinen Blick zu Boden gesenkt, während ihn die Einsamkeit umgab und er auf die Nacht wartete.
Übersetzt aus dem Französischen von Danja Nüesch.