Die mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete deutsche Autorin Anne Weber durchwandert in ihrem neusten Werk «Bannmeilen» die Pariser Banlieues. Jene verstädterten Randzonen von Paris. Sie gelten als «Orte der Finsternis»: Betonwüsten, Brutstätten des Drogenhandels und des Aufruhrs.
In unheilvoller Erinnerung ist Nicolas Sarkozys verbale Entgleisung nach besonders heftigen Krawallen 2005: Als damaliger französischer Innenminister verkündete er in La Courneuve, die Banlieues mit dem Hochdruckreiniger, dem «Kärcher», zu reinigen und das «Pack» zu beseitigen.
«Ich war schockiert!»
Anne Weber, 1964 in Offenbach am Main geboren, lebt seit vier Jahrzehnten in Paris. Im inneren und privilegierten Teil der Stadt. In all den Jahren sei sie – wie die meisten ihrer Bekannten – «kaum je in die Banlieues gelangt», sagt die Autorin im Interview.
In ihrem Roman schildert die Autorin, dass sie auf Einladung eines Freundes, eines gewissen Thierry, der in den Banlieues aufgewachsen ist, das Unbekannte in unmittelbarer Nähe zu erkunden beginnt. «Ich war schockiert», sagt Anne Weber. Vom sozialen Elend. Aber auch, «wie wenig Neugierde ich all die Jahre aufgebracht hatte für diese Quartiere ganz in meiner Nähe».
Während der Streifzüge mit Thierry, erzählt Anne Weber, habe sie ein neues Bild erhalten. Der Roman benennt zwar die Misere: Arbeitslose, kriminelle Jugendliche, triste Wohnsiedlungen an Schnellstrassen. Gleichzeitig stossen die beiden auf ihren Touren auch auf hochmoderne Gebäude. Des französischen Nationalarchivs etwa. Oder der Banque de France. Oder sie besuchen eine Kirche, die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 eine Rolle spielte.
All dies passt nicht ins Klischee. «Mir haben die Streifzüge geholfen, Vorurteile abzubauen», sagt Anne Weber. Dies geschieht insbesondere auch in einem Café, in dem die beiden regelmässig einkehren. Hier treffen sie Ansässige. Und lauschen ihren Geschichten. Und es stellen sich auch neue Fragen. Etwa, weshalb viele Menschen der Banlieues ausgerechnet der Rechtsaussenpartei Rassemblement National anhängen. Weshalb nur? «Ich versuche zu beschreiben und Fragen zu stellen. Ich bin keine Bescheid-Wisserin», sagt Anne Weber.
Kein Blick durch die Brille der Privilegierten
Die Schilderung wirkt nie überheblich, weil die Erzählerin im Buch ihre eigenen Vorurteile thematisiert. So schreibt sie etwa in Anbetracht der sich auftürmenden Sperrmüllberge: «Warum erwarte ich von Menschen, die in Betonkisten neben der Autobahn leben müssen, dass sie sich mit der Reinlichkeit und Ordnung ihrer Umgebung befassen?»
Es gehört zu den Verdiensten dieses Buchs, dass es dort hin leuchtet, wo vergleichsweise privilegierte Menschen meistens wegblicken. Aus Gleichgültigkeit. Vielleicht auch aus Scham. Auch sie habe «immer wieder Zweifel gehabt», erklärt Anne Weber. Aber sie habe sie überwunden, weil sie «die Menschen nicht vorführe».
Tatsächlich: Die Autorin begegnet den Menschen der Banlieues auf Augenhöhe. Und dies lässt bei der Lektüre jenes Gefühl entstehen, das dieses Buch durchzieht und zu einer beglückenden Lektüre macht: das einer allgemeinmenschlichen Verbundenheit mit dem vermeintlich Fremden.