Der französische Reiseschriftsteller Sylvain Tesson ist immer auf der Suche nach der körperlichen Extremerfahrung mit maximaler Aktivität. Als er 2019 mit dem bekannten Tierfotografen Vincent Munier aufbricht, den vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden zu erspähen, begibt er sich zu seiner Überraschung auf eine Reise der anderen Art. Tessons Abenteuer in Tibet sind die Geduld, die Stille, das Ausharren, das Unsichtbarwerden.
Die Kunst des Unsichtbarwerdens
Voller Bewunderung stellt Tesson in seinem Buch «Der Schneeleopard» fest, dass der Fotograf Munier die Technik des Unsichtbarwerdens beherrscht. Nur so kann er sich voll und ganz auf die Umgebung konzentrieren und die Natur und ihre Phänomene wahrnehmen, nur so wachsen die Chancen, dem bedrohten Helden der Einsamkeit, dem Schneeleoparden, im zentralasiatischen Gebirge näher zu kommen.
Einen Monat sind Tesson und Munier zusammen mit dessen Partnerin und einem Kollegen in Tibet unterwegs. Die Temperaturen sind tief, das Gepäck ist schwer, das Warten endlos. Dieses Ausharren schärft Tessons Wahrnehmung und Gedanken. Glasklar, mit poetischer Präzision hält er fest, was er sieht und aufsaugt: Die weiten Landschaften, die Begegnung mit Menschen, Augenblick schmerzhafter Schönheiten.
Virtuos verwebt er Naturbeschreibungen mit tiefgründigen Betrachtungen über globale Veränderungen, Technologie-Gläubigkeit oder das Verhalten der Menschen, die sich die Erde radikal Untertan gemacht haben. «Wir waren acht Milliarden Menschen. Es waren noch ein paar tausend Leoparden übrig. Die Menschheit spielte kein faires Spiel.»
Viel deutsche Romantik
Während des Wartens auf den Schneeleoparden skizziert Tesson Landschaftsbilder mit magischer Kraft. Er lässt durchblicken, wie sehr ihn die deutsche Romantik, allen voran Novalis, beeinflusst hat. Er beschreibt die perfekt geregelten Tragödien, die sich abspielen, wenn fleischfressende Wölfe ein Blauzungenschaf reissen, das mit gesenktem Kopf geduldig Gras mampft.
Das Lauern lohnt sich schliesslich. Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht der Schneeleopard auf einem Felsvorsprung auf: «Er erhob sich und reckte den Hals in unsere Richtung. Er hat uns gesehen, dachte ich. Und jetzt? Wird er sich auf uns stürzen? Er gähnte. So viel zur Wirkung des Menschen auf den tibetischen Leoparden.»
Ein einziges Bild hat Tesson in sein wortstarkes Buch gepackt. In der Mitte der kleinen Fotografie sitzt klar erkennbar ein Falke auf einem mit Flechten überzogenen Felsen. Ein Stück weiter hinten, hinter einer Felskante, und für den ungeübten Blick kaum zu erkennen, fixiert ein Schneeleopard den Fotografen. Selbst Munier war das Tier entgangen. Erst zwei Monate später, im Atelier, hatte der Fotograf den Leoparden entdeckt.
Das Unerkennbare erkennen
Wie aus vielen Beobachtungen zieht Tesson auch aus diesem Bild eine Lehre: Unsere Augen wählen in der Regel den Weg des geringsten Widerstands und sehen vor allem das, was sie kennen.
So liest sich das Buch «Der Schneeleopard» denn auch als Plädoyer, vermehrt die Randgebiete der Wirklichkeit zu erkunden und das Unerkennbare zu erkennen.