«Meine Schwester» ist der erste Roman der Fotografin Bettina Flitner. Im Interview erinnert sie sich an die gemeinsame Kindheit und Jugend zurück – voller Freude, aber auch Abschiede. Eine bildhafte und präzise erzählte Spurensuche über den Zauber und die Bürde von Geschwisterschaft.
SRF: Wenn ich das Cover Ihres Buches betrachte, dann sehe ich das Foto von Ihnen und Ihrer Schwester Susanne Anfang 20, vor einem Spiegel stehend. Wie erinnern Sie sich an den Moment, als dieses Foto entstanden ist?
Bettina Flitner: Ich erinnere mich seltsamerweise sehr genau an diesen Moment, weil ich damals wusste – und ich glaube, meine Schwester auch –, dass sich jetzt unsere Wege trennen. Sie ging nach Essen, ich ging nach Köln. Wir hatten uns bereits auseinanderentwickelt und trafen uns noch einmal im Haus meines Vaters.
Ich hatte gerade meine erste Kamera erstanden und gesagt: «Komm, lass uns doch ins Badezimmer gehen und ein Foto machen.» Das war sozusagen das Selfie der 80er-Jahre. Wir haben uns vor den Spiegel gestellt, ich habe meine Kamera auf ihrer Schulter abgelegt und wir haben uns beide angesehen. Dann habe ich auf den Auslöser gedrückt.
Dieses Verhältnis zwischen Ihnen beiden ist auch das, was mich in Ihrem Buch sehr beschäftigt hat. Sie waren sich in Ihrer Kindheit sehr nahe, und irgendwann in der Jugend trennten sich Ihre Lebenswege. Die Nähe aus der Kindheit war nur noch über die gemeinsame Vergangenheit herzustellen. Aber das gemeinsame Erinnern wurde dann durch den Suizid ihrer Schwester jäh unterbrochen.
Wenn so ein plötzlicher Tod über einen hereinbricht, dann wird auch eine ganze Welt weggerissen, unsere gemeinsame Kindheit und Jugend, unsere Streiche, unsere komischen Geschichten, die wir miteinander erlebt haben, aber auch die Schwierigkeiten, die uns so zusammengeschweisst haben. All das war plötzlich weg, nur noch in meiner Erinnerung vorhanden.
Meine Schwester und ich gaben uns Sicherheit.
Vielleicht ist das Buch auch ein Versuch von mir, diese Welt nicht endgültig verschwinden zu lassen und meiner Schwester ein Denkmal zu setzen.
Am Anfang des Buches fragt eine Freundin Sie nach dem Selbstmord Ihrer Schwester: «Standet ihr euch nahe?» Sie antworten: «Nein. Und ja.» Wenn Sie jetzt auf Ihr Verhältnis schauen, wie hat sich das über die Jahre hinweg entwickelt?
Das war am Anfang ganz, ganz eng. Auch wegen der libertären Beziehung unserer Eltern, die immer wechselnde Liebespartner hatten und eine sehr streitbare Ehe führten. Meine Schwester und ich gaben uns in diesem Konstrukt Sicherheit.
Sie war für mich immer die bewunderte grosse Schwester. Sie war zweieinhalb Jahre älter als ich, und sie war die Schöne und Tolle und Mutige. Aber im Laufe der Jahre haben wir uns auseinanderentwickelt. Irgendwann wurde meine Schwester für mich eher eine langweilige Person, und ich glaube, ich für sie auch.
Irgendwann kippte Ihr Verhältnis also. Lagen Ihre beiden Lebenskonzepte zu weit auseinander?
Ja, so ist es. Ich hatte irgendwann den Eindruck, dass sie sich eigentlich nur dann interessant fand, wenn sie gefiel, wenn sie Männern gefiel. Das war die Rolle, die ihr zugeteilt worden war.
In der Jugend bekam sie immer Schminksachen geschenkt, während ich eine Eisenbahn oder einen Elektrobaukasten bekam, und das sagt ja eigentlich schon alles.
Ist das also auch eine Erzählung über das Scheitern einer Frau als Frau, die sich nie so richtig hat emanzipieren können?
Ja, aber das sehe ich erst jetzt, nachdem ich das Buch geschrieben habe. Es ist ein Buch über eine Frau, die an ihren und an diesen teilweise doch auch absurden Vorstellungen von Weiblichkeit gescheitert ist, die letztendlich in einer Sackgasse gelandet ist.
Das Buch lebt von seinen starken Bildern. Von den Raben beispielsweise, die ins Haus flattern, wenn die Depression Ihre Mutter «anflog». Es kam mir beim Lesen so vor, als blickten Sie wie durch die Linse eines Fotoapparats auf das Geschehene und halten es in Bildern fest, wie in einem Fotoalbum.
Als Kind habe ich offenbar ziemlich genau hingesehen, und das hat sich in Bildern in mir gespeichert. Ich habe mich offen gestanden sehr gewundert, dass ich so nah an meine Erinnerungen rankam.
Ich habe Dinge entdeckt, von denen ich glaubte, dass ich sie vergessen hatte, aber irgendwo scheinen sie in mir geschlummert zu haben. Durch Konzentration, aber auch alte Briefe oder Fotos, die ich ausgegraben habe, sind diese Erinnerungen dann plastisch nach oben gestiegen.
Haben Sie sich manchmal gefragt, was Ihre Schwester über dieses Buch gesagt hätte?
Das habe ich natürlich. Ich glaube, sie wäre einerseits etwas bang gewesen, weil ich so viel erzähle. Aber auf der anderen Seite, glaube ich, wäre sie auch wahnsinnig stolz.
Das Gespräch führte Nicola Steiner für den Podcast «Zwei mit Buch».
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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