Als einer der schönsten Brüderromane wird Heinz Helles neues Buch «Die Überwindung der Schwerkraft» gefeiert. Doch es ist noch viel mehr: zum Beispiel einer der schönsten Saufromane der deutschen Literatur.
Diese hat zwar viele begnadete Säufer hervorgebracht – etwa Jean Paul oder Joseph Roth – aber nur wenige gelungene Sauftexte. Heinz Helles Roman gehört definitiv dazu – und das ist ganz und gar nicht despektierlich gemeint.
Die Geschichte zweier Brüder
Zwei Brüder ziehen darin von einer Biertränke zur nächsten: vom «Flaschenöffner» bis in Münchens einzigen «Indoor-Biergarten» mit Plastikefeu.
Der Gesprächsstoff geht vor allem dem älteren Bruder nie aus. Wenn er nicht gerade einen Kopfstand zwischen den Gläsern auf dem Tisch wagt, monologisiert und philosophiert er immer hochprozentiger.
Der Jüngere fühlt sich derweil auf die Rolle des «kleinen Bruders» reduziert. Zum Mittrinken und Zuhören verdammt fällt ihm die Chronistenpflicht zu: Die meisten Erinnerungen an die Sauferei kommen ihm wieder hoch, nachdem der Ältere sich krank- und schliesslich zu Tode getrunken hat.
Besoffenes Philosophieren
Der Alkohol bleibt in dieser Brüdergeschichte aber nicht bloss negativ besetzt. Mit ihm lässt sich die Schwerkraft tatsächlich überwinden, wie es der Titel andeutet.
Alkohol ist der Treibstoff, der die Brüder durch immer neue Gesprächssphären sausen lässt. Er ermöglicht ihnen, selbst Dunkles, Verwegenes und Entlegenes zu thematisieren.
Unvereinbares zusammenziehen
Sie schweifen von der allgemeinen Erörterung des «Schönen» zum belgischen Kinderschänder Marc Dutroux und vom zu Unrecht vergessenen Humanismus zurück zum Schrecken von Stalingrad.
Der ältere Bruder ist darauf aus, scheinbar Unvereinbares zusammenzusehen. Was ihm und auch dem Autor Heinz Helle zu denken gibt, ist eine zunehmende Geschichtsabstinenz: Man blendet alles Widrige aus und wendet sich ab.
Von Hitler zu Dutroux
Die beiden Brüder widersetzen sich diesem apathischen Denken, indem sie fast manisch nach Zusammenhängen suchen und über Geschichtliches nachdenken.
Besonders der Ältere reflektiert wild über das Gemeinschaftsgefühl nach, das im Übermass zu Hitler geführt habe. Fast im selben Atemzug sagt er dann aber auch, dass auf der anderen Seite zu viel Individualismus und Egoismus letztlich zu einem Kinderschänder wie Dutroux führe.
Der einsame Denker
In diesem Buch reihen sich die gewagten, aber deshalb nicht minder brisanten Denkorgien über Kollektiv und Individuum im digitalen Zeitalter. Wie der jüngere Bruder beim Erinnern feststellt, gehört zur Tragik seines verstorbenen Bruders, dass er sich mit seinem masslosen, radikalen Nachdenken zuletzt in eine tiefe Einsamkeit hineingeritten hat, aus der er nicht mehr herausfand.
Heinz Helle schildert die Brüdergespräche so plastisch und erfahrungsreich, dass man sich als Leser nie in ein historisches Seminar versetzt fühlt. Der Roman «Die Überwindung der Schwerkraft» beweist, wie faszinierend, spannend und sinnlich es sein kann, über Geschichte in Geschichten zu philosophieren. Auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2018 steht er völlig zurecht.