«Nichts wird in der heutigen Zeit so fahrlässig verschwendet wie Talent.» Davon ist Rutger Bregman überzeugt und zitiert eine wissenschaftliche Studie: Etwa 25 Prozent der Menschen in wohlhabenden Ländern sagen von sich, dass sie in einem sozial nutzlosen Beruf arbeiten – «Bullshitjobs», kommentiert Bergman trocken.
Gemeint sind Menschen, die streiken können, ohne dass sich der Lauf der Dinge ändert: Wirtschaftsanwälte, Börsenmaklerinnen, Werbetreibende oder Influencerinnen. Dabei könnten wir es uns gar nicht leisten, so viel Talent ungenutzt zu lassen, schreibt der Niederländer in seinem Buch «Moralische Ambition».
Die Welt braucht talentierte Enthusiasten
«Während sich die Menschheit von einer brutalen Pandemie erholt, erleben wir zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Anstieg des Hungers. Während Demokratie und Rechtsstaat ins Wanken geraten, sind mehr als hundert Millionen Menschen auf der Flucht.»
Während ein Hitzerekord den nächsten jage, beschwöre man in den Klimawissenschaften die Notwendigkeit «der grössten und grundlegendsten Transformation» der Gesellschaft, so Bregman.
Moralische Ambition als Wegweiser
Um diese Herausforderungen zu meistern, reiche es nicht, auf Fleisch und Flüge zu verzichten, Online-Petitionen zu unterschreiben oder auf Demos zu gehen, glaubt der 36-Jährige. Es brauche moralische Ambition, also den «Willen, etwas zu bewirken und etwas zu hinterlassen, das wirklich zählt».
Beispiele findet der Historiker in den vergangenen Jahrhunderten: Er erzählt von Freiheitskämpferinnen, Quäkern, Erfinderinnen und Unternehmern, die die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben. Geld und Macht seien dabei von Vorteil, aber nicht zwingend notwendig: «Denken Sie an die Abolitionisten, die gegen die Sklaverei kämpften, oder an die Suffragetten, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzten. Waren sie die reichsten oder mächtigsten Gruppen ihrer Zeit? Nein. Aber sie haben die Welt verändert.»
Aus der Geschichte lernen
Schriftsteller Thomas Clarkson half bei seinem Kampf gegen den Sklavenhandel im England des 18. Jahrhunderts etwa eine neue Sichtweise, erklärt Bregman: Nicht das Leid der Schwarzen bewegte die Herrschenden zum Umdenken, sondern die Tatsache, dass bei den Überfahrten auf einem Sklavenschiff 20 Prozent der Besatzung, also weisse Seeleute, die Reise nicht überlebte.
Bregman fragt auch, warum die Menschen von Nieuwlande, einem niederländischen Dorf, in der Nazizeit so viele Jüdinnen und Juden bei sich versteckt haben: Nicht, weil sie mit ihnen befreundet waren oder zufällig ein grosses Haus besassen, sondern weil sie gefragt wurden. Es brauchte also eine Person, die den Anfang machte – eine Art Superspreader, der seine Mitmenschen ansteckte.
Effekthascherisch oder effektiv?
Wie kleine Detektivgeschichten lesen sich diese historischen Begebenheiten: Sie beginnen provokant und offenbaren erst nach und nach, worauf der Autor hinauswill. Ein Stilmittel, von dem man als Leserin gelangweilt sein möchte, das einen aber doch immer wieder hineinzieht.
«Moralische Ambition» ist der Aufruf eines idealistischen Historikers zu mehr Miteinander, mehr Mut, mehr Risiko. Seinen Angang kann man als effekthascherisch oder überzeichnet abtun. Dass Bregman aber glaubhaft das Positive und Gute im Blick hat, ist gerade in der aktuellen Zeit nicht nur beruhigend, sondern auch ermutigend und mitreissend.