Ein Schweizer Lottomillionär aus dem einfachen Volk und ein schottischer Ökonom von Weltrang Seite an Seite im selben Buch? Ja, das passt.
Der eine verliert sein Glück so schnell, wie er es findet. Der andere ist Asket bis auf die Knochen und hat doch eine absurde Gier nach Würfelzucker.
Glückssuche als Wimmelbild
Adam Smith und Werner Bruni kommen aus unterschiedlichen Welten und Zeiten. Aber Sehnsucht und Begehren verbindet sie. Entlang ihrer Geschichten – und vieler weiterer – breitet Dorothee Elmiger in «Aus der Zuckerfabrik» ein literarisches Wimmelbild aus.
Süsse für die einen, Bitternis für die anderen
Es geht in Elmigers neuem Roman um Glückssuche inklusive Scheitern und Flucht in den Ersatz. Es geht aber auch um die historischen, politischen und gesellschaftlichen Aspekte der uralten Jagd nach dem Glück. Beispiel Kolonisation: Zuckerrohr, Kaffee, Gold, Sklaven. Süsse für die einen, ist die Erkenntnis, war schon immer Bitternis für die anderen.
Als «Recherchebericht» will die heute 35-jährige Schweizer Autorin ihren Roman verstanden wissen – und verzahnt in «Aus der Zuckerfabrik» eine Fülle von Material rund um das Verlangen, die Gier und den Hunger nach Erfüllung.
Sich selbst nicht loswerden
Dorothee Elmiger findet ihren Stoff in Medien- und Reiseberichten, wissenschaftlichen Abhandlungen, Literatur, Film, Musik. Sie transponiert ihn in unzählige Lebensgeschichten, bekannte und anonyme – und schmeckt ihn schliesslich ab mit den Erfahrungen einer Ich-Figur, die manchmal auch sie selbst sein könnte:
«Es ist mir eigentlich unangenehm, mich jetzt so weit ins Persönliche hineinzubegeben. Aber dass ich mich sowieso immer in alles mit hineintrage oder mich eben, anders gesagt, nie loswerde, das ist eine Tatsache», erzählt sie im Interview.
Ganz eigener Sound
Seit dem Debüt «Einladung an die Waghalsigen» von 2010 hatten Dorothee Elmigers Bücher ihren ganz eigenen Sound. Sie sind eigenwillige Collagen aus Erzählungen und Nacherzählungen, mehr Suche als These. Sie haben keinen Plot, aber sie werfen Netze aus.
In «Aus der Zuckerfabrik» bergen diese Netze Begehren und Zurückweisung. Ekstatische Grenzüberschreitung und rohe Gewalt. Unbekümmerte, gefrässige Neugier und dumpfen Hunger.
Sie holen auch den Stoff grosser Debatten ans Licht: Sexismus, Rassismus, ökonomische Ungleichheit und ökologischen Raubbau.
Bratkartoffeln im Überfluss
Aber auch das Kleine findet sich zwischen den Maschen. Neben all den vielen berühmten Glückssucherinnen und Glückssuchern, neben Traumtänzern wie Vaslav Nijinsky und Mystikerinnen wie Teresa von Avila, glänzt nicht minder hell zum Beispiel ein dickes Kind in einem Schnellimbiss.
Zufällig beobachtet, redet es vor einem Teller Bratkartoffeln unablässig davon, wie es «nach seinem Tod hierher zurückkehren und für immer Kartoffeln essen» möchte. Mit seiner ganz eigenen Vorstellung von Himmel fügt es Dorothee Elmigers Erzählfabrik ein funkelndes Körnchen Zucker hinzu.