Man schreibt das Jahr 1944 – Berlin steht unter Beschuss der Alliierten. Wer eine Erlaubnis hat, die Stadt zu verlassen, ist heilfroh: Die Chancen zu überleben steigen dadurch massiv. Deshalb nehmen die Künstlerinnen und Künstler des Kulturzentrums UFA den offiziellen Auftrag gern entgegen, im bayerischen Bergdorf Kastelau einen grässlichen Nazi-Film zu drehen: «Das Lied der Freiheit». Aber das Schicksal will es anders: Auf dem Weg in den Süden wird ein Crew-Bus von einer Bombe getroffen. 14 Personen kommen ums Leben und ein Grossteil der Kostüme und Requisiten werden vernichtet. Mit der Schrumpf-Truppe, die Kastelau schliesslich noch erreicht, ist die Realisierung dieses Projektes nicht mehr denkbar. Und eigentlich sollten die Überlebenden umgehend nach Berlin zurückkehren.
Der grosse Bluff
Die Schauspieler und Regisseure vor Ort beharren aber darauf, den Film gleichwohl zu drehen – wenn auch nur als Farce. Und so erzählt Charles Lewinsky die turbulente Geschichte, wie der Dorfbevölkerung und den Nazi-Spitzeln vorgegaukelt wird, dass hier täglich hart auf dem Set gearbeitet wird. Oft vergessen selbst die Akteure, dass ihre Leistungen gar nie auf Zelluloid festgehalten werden: Sie geraten einander wegen Rollen in die Haare, beharren auf Wiederholungen und hoffen, dank ihrer grossartigen schauspielerischen Leistungen, doch noch als Talente entdeckt zu werden.
Aber auch hinter den Kulissen geht es hoch her. Der schwule Hauptdarsteller Walter Arnold zum Beispiel verführt den schönen Sohn des Dorfbäckers und wird vorübergehend festgenommen.
Trouvaille im Filmarchiv
Man spürt beim Lesen, dass Charles Lewinsky – als erfahrener Fernsehunterhalter und Drehbuchschreiber – hier aus dem Vollen schöpfen kann. Zuweilen kommt er zwar gefährlich nahe an den Klamauk, aber letztendlich meistert er die heikle Gratwanderung mit Bravour.
Und so gelingt es ihm, eine heitere Geschichte in politisch düsteren Zeiten zu präsentieren. Sein Trick: Er beruft sich auf historische Quellen und wählt formal eine originelle Lösung. Lewinsky lässt nämlich die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählen, zitiert aus Tagebucheinträgen, Interview-Aufnahmen, Briefen und Wikipedia-Einträgen. Eine Konstruktion, die für Tempo- und Ton-Wechsel sorgt.
Wird auch der Leser genarrt?
Gefunden habe er das umfangreiche Material – so schreibt Charles Lewinsky im Vorwort zu «Kastelau» – zufällig in einem Film-Archiv in Los Angeles. Hinterlassen habe es ein Filmwissenschaftler, der jahrelang über dieses Projekt in den bayerischen Bergen recherchiert habe. «Im Sinne einer Rekonstruktion habe ich aus den Texten und Textfragmenten eine Auswahl getroffen und versucht, sie in eine logische Reihenfolge zu bringen», heisst es da im Vorwort wortwörtlich. Und weiter schreibt er: «Innerhalb der Texte – abgesehen von der Übersetzung ins Deutsche – habe ich keine Änderungen vorgenommen».
Charles Lewinsky selber sagt, «Kastelau» sei ein Roman übers Lügen. Die Vermutung drängt sich beim Lesen immer deutlicher auf, dass er hier literarisch ein ähnliches Verfahren wählt, wie die Film-Truppe damals in Kastelau und das Publikum ganz schön an der Nase herumführt. Aber wie immer beim geschickten Spiel mit der Illusion: Es könnte eben doch Realität sein. Den Entscheid über Erfindung oder Wahrheit überlässt Charles Lewinsky letztendlich dem Lese-Publikum.
Zu Recht hat die Jury des Deutschen Buchpreises «Kastelau» letzte Woche auf die Longlist der 20 besten Bücher des deutschsprachigen Literaturjahres 2014 gesetzt.