Wie so viele Märchen beginnt auch diese Geschichte mit dem Tod des Königs. Seine Tochter Tilda soll ihm auf den Thron folgen. Sie träumt bereits davon, ihr Reich gerechter zu machen.
Doch sie fällt den Intrigen ihrer Mutter zum Opfer, die an Tildas Stelle deren kleinen Bruder auf den Thron setzt. Dieser, so glaubt die Königin, lässt sich besser im Sinn der Mächtigen und Reichen instrumentalisieren.
Tilda flieht mit zwei Getreuen und träumt weiter davon, als Königin für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Modernes Märchen
Die Graphic Novel «Das goldene Zeitalter» wirkt vordergründig wie ein klassisches Abenteuer-Epos aus einem imaginären Spätmittelalter. Die Geschichte ist eine eigenwillige Mischung aus mittelalterlichen Versdichtungen, Volksmärchen und «Game of Thrones».
Inkognito zieht Tilda durch ein Land, in welchem sich die feudalen Gewissheiten auflösen und allgemeine Orientierungslosigkeit herrscht.
Bauern erheben sich gegen die Aristokratie, fanatische Prediger verheissen das Paradies auf Erden, überall herrschen Gewalt und Krieg, utopische Zukunftsvisionen prallen auf gegenwärtige Schreckensszenarien.
Männerlose Utopie
Die von den Schergen ihrer Mutter verletzte Tilda wird von einer Frauengemeinschaft aufgenommen. Diese verwirklicht heimlich – verborgen in einem dichten Wald – ihre Utopie einer männer- und gewaltlosen Gesellschaft. Dort hört Tilda zum ersten Mal vom legendären «Goldenen Zeitalter», in welchem die Menschen frei und gleichberechtigt gelebt haben sollen.
Je länger Tildas Irrfahrt jedoch andauert, desto mehr verliert sie den Glauben an eine gerechtere Welt. Am Schluss des ersten Bands scheint sie ihn sogar aufgegeben zu haben und den Thron aus reinem Machthunger anzustreben.
Feministisch und betörend
Vor einer fantastisch überhöhten mittelalterlichen Kulisse erzählen die Autorin Roxanne Moreil und der Zeichner Cyril Pedrosa eine dezidiert moderne Geschichte. Modern ist sie nicht nur wegen ihrer klaren feministischen Haltung.
Auch das heutige Gefühl von Verunsicherung und Werteverlust findet ihr Echo. Der Eindruck, in einer Zeitenwende zu leben, schürt sowohl Ängste als auch Hoffnungen. Und er wirft die Frage auf, wie und warum man überhaupt noch an eine bessere Welt glauben soll.
Bewegung im Bild
Pedrosas Zeichnungen bringen die Handlung, die Stimmungen und auch die Reflexion auf betörende Weise aufs Papier: Inspiriert von den Motiven, Mustern und Farben mittelalterlicher Tapeten und Bibel-Illuminationen, Altarbildern und Bruegel-Szenerien beschwört er eine Welt, in der Realität und märchenhafte Überzeichnung, Utopien und Dystopien sich durchdringen.
Bei aller Opulenz sind diese prächtigen Bilderreigen flüssig zu lesen. Oft bewegen sich die Figuren nicht von einem Einzelbild zum nächsten, sondern vollziehen ihre Bewegungen auf halb- oder ganzseitigen Bildern.
Auch diese Form von Sequenzialität und Handlungsabfolge ist direkt inspiriert von Altarbildern und verstärkt den Eindruck von Dynamik und Bewegung.
Die bunte Pracht dieses Bilderreigens ist so berückend, dass man versucht ist, sich darin zu verlieren – statt sich auf die Geschichte zu konzentrieren. Das lohnt sich jedoch: «Das Goldene Zeitalter» ist ebenso sehr eine packende Abenteuergeschichte wie eine philosophische Fabel.