Ein intensiver Konflikt zwischen Mutter und Tochter. Eine Favela in Rio de Janeiro als explosives Setting. Atemberaubende Dialoge. Dynamische Zeichnungen: «Hör nur, schöne Márcia» hat alles, was es für eine mitreissende Geschichte braucht.
Es ist deshalb wohlverdient, dass der brasilianische Autor und Zeichner Marcello Quintanilha am Comicfestival in Angoulême den Preis für den besten Comic gewonnen hat – die wichtigste europäische Auszeichnung für eine Graphic Novel.
Zank und Zoff
Márcia und ihre erwachsene Tochter Jaqueline können schon lange nicht mehr vernünftig miteinander reden. Jedes Gespräch endet damit, dass Jaqueline türknallend aus der Wohnung stürmt, um sich zu ihren zweifelhaften Freunden zu gesellen.
Dieser Konflikt erstaunt auf den ersten Blick, denn äusserlich gleichen sich Márcia und Jaqueline sehr: Sie sind beide übergewichtig, haben eine kraftvolle körperliche Präsenz. Und sie sind beide leidenschaftlich, aufbrausend und sehr laut.
Im Sumpf der Bandenkriminalität
Und doch sind sie ganz anders: Márcia ist Krankenschwester, opfert sich gerne für andere auf. Jaqueline hingegen arbeitet nicht, lässt sich treiben, hat eine Affäre mit einem Drogendealer aus der Nachbarschaft und rutscht immer tiefer in den Sumpf der Bandenkriminalität.
Quintanilha arbeitet mit Stereotypen, und doch gelingt es ihm, seinen Figuren eine glaubhafte Tiefe zu verleihen.
Zwischen den beiden weiblichen Urgewalten steht der nette Aluisio. Márcias Partner würde gerne schlichten, hat aber gegen die beiden Frauen kaum eine Chance.
Márcias und Aluisios Versuche, Jaqueline zur Räson zu bringen, führen immer zu Zank und Zoff. Márcia dringt nicht mehr zu ihrer Tochter durch, der Graben scheint unüberbrückbar.
Zwischen den Fronten
Als in der Favela ein Bandenkrieg ausbricht, weil korrupte Milizen das Drogengeschäft übernehmen wollen, gerät die leichtsinnige Jaqueline in Schwierigkeiten: Sie lässt sich als Drogenkurierin einspannen, wird prompt verhaftet und landet im Gefängnis.
Aus Liebe zu ihrer Tochter mischt sich Márcia in den Bandenkrieg ein und gerät ihrerseits auf den Radar von Polizei und Kriminellen. Auch Aluisio und sie sind in der Favela nicht länger sicher.
Es ist atemberaubend, wie geschickt Quintanilha das Mutter-Tochter-Drama mit dem Thriller verknüpft und zusätzlich noch um weitere Nebenfiguren und -Geschichten ergänzt. Und doch bleibt die Geschichte immer klar, authentisch und glaubwürdig. «Hör zu, schöne Márcia» vermittelt einen packenden Einblick in die Schattenseiten des heutigen Brasilien.
Expressives Violett
Auch visuell ist «Hör nur, schöne Márcia» ungewöhnlich. Quintanilha taucht sein Rio in exzessiv bunte und künstlich anmutende Farben. Am auffälligsten sind die Figuren, deren Haut in unterschiedlichen Violetttönen glüht.
Was auf den ersten Blick bizarr aussieht, entfaltet eine verblüffende Wirkung: Die unrealistischen Farben verleihen der Geschichte etwas Surreales, Fiebriges.
Zeichnungen in Bewegung
Das wiederum passt zu Quintanilhas Strich, der ebenso lebendig ist wie seine Figuren und Dialoge. Seine Zeichnungen sind immer in Bewegung, sie wirken schnell hingeworfen, sind aber ungemein präzise.
Die Bildsprache intensiviert den Sog dieser Geschichte bis zu einem Ende, das – nach zahlreichen Brüchen, Wendungen und Überraschungen – ebenso rau wie versöhnlich ist.