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Die Graphic Novel «Hör nur, schöne Márcia» von Marcello Quintanilha
Aus Kultur-Aktualität vom 27.03.2023. Bild: Reprodukt
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 32 Sekunden.

Comic zu Rios Schattenseiten Ein bonbonbunter Albtraum in den Favelas von Rio

Ein Mutter-Tochter-Drama mitten in einem brasilianischen Bandenkrieg: Die Graphic Novel «Hör nur, schöne Márcia» von Marcello Quintanilha ist eine Wucht.

Ein intensiver Konflikt zwischen Mutter und Tochter. Eine Favela in Rio de Janeiro als explosives Setting. Atemberaubende Dialoge. Dynamische Zeichnungen: «Hör nur, schöne Márcia» hat alles, was es für eine mitreissende Geschichte braucht.

Buchhinweis

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Marcello Quintanilha: «Hör nur, schöne Márcia». Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner. Reprodukt, 2023.

Es ist deshalb wohlverdient, dass der brasilianische Autor und Zeichner Marcello Quintanilha am Comicfestival in Angoulême den Preis für den besten Comic gewonnen hat – die wichtigste europäische Auszeichnung für eine Graphic Novel.

Zank und Zoff

Márcia und ihre erwachsene Tochter Jaqueline können schon lange nicht mehr vernünftig miteinander reden. Jedes Gespräch endet damit, dass Jaqueline türknallend aus der Wohnung stürmt, um sich zu ihren zweifelhaften Freunden zu gesellen.

Zeichung: Eine Frau will einen andere schlagen, ein Mann hält sie zurück.
Legende: Der Streit zwischen Márcia und ihrer Tochter eskaliert immer wieder. Reprodukt

Dieser Konflikt erstaunt auf den ersten Blick, denn äusserlich gleichen sich Márcia und Jaqueline sehr: Sie sind beide übergewichtig, haben eine kraftvolle körperliche Präsenz. Und sie sind beide leidenschaftlich, aufbrausend und sehr laut.  

Im Sumpf der Bandenkriminalität

Und doch sind sie ganz anders: Márcia ist Krankenschwester, opfert sich gerne für andere auf. Jaqueline hingegen arbeitet nicht, lässt sich treiben, hat eine Affäre mit einem Drogendealer aus der Nachbarschaft und rutscht immer tiefer in den Sumpf der Bandenkriminalität.

Zeichnung: Eine Frau schaut in einen Raum, in denen drei Männer mit Bierflaschen und Gewehren sind.
Legende: Wegen ihrer zweifelhaften Freunde rutscht Jaqueline in die Kriminalität ab – und zieht ihre Mutter mit. Reprodukt

Quintanilha arbeitet mit Stereotypen, und doch gelingt es ihm, seinen Figuren eine glaubhafte Tiefe zu verleihen.

Zwischen den beiden weiblichen Urgewalten steht der nette Aluisio. Márcias Partner würde gerne schlichten, hat aber gegen die beiden Frauen kaum eine Chance.

Márcias und Aluisios Versuche, Jaqueline zur Räson zu bringen, führen immer zu Zank und Zoff. Márcia dringt nicht mehr zu ihrer Tochter durch, der Graben scheint unüberbrückbar.

Zwischen den Fronten

Als in der Favela ein Bandenkrieg ausbricht, weil korrupte Milizen das Drogengeschäft übernehmen wollen, gerät die leichtsinnige Jaqueline in Schwierigkeiten: Sie lässt sich als Drogenkurierin einspannen, wird prompt verhaftet und landet im Gefängnis.

Aus Liebe zu ihrer Tochter mischt sich Márcia in den Bandenkrieg ein und gerät ihrerseits auf den Radar von Polizei und Kriminellen. Auch Aluisio und sie sind in der Favela nicht länger sicher.

junger Mann mit Grille und zurückgehendem Haar in brauner Jacke, dahinter Fluss
Legende: Marcello Quintanilha führt mit der Graphic Novel feinfühlig und farbstark durch seine Heimatstadt Rio de Janeiro. Luciana de Oliveira

Es ist atemberaubend, wie geschickt Quintanilha das Mutter-Tochter-Drama mit dem Thriller verknüpft und zusätzlich noch um weitere Nebenfiguren und -Geschichten ergänzt. Und doch bleibt die Geschichte immer klar, authentisch und glaubwürdig. «Hör zu, schöne Márcia» vermittelt einen packenden Einblick in die Schattenseiten des heutigen Brasilien.

Expressives Violett

Auch visuell ist «Hör nur, schöne Márcia» ungewöhnlich. Quintanilha taucht sein Rio in exzessiv bunte und künstlich anmutende Farben. Am auffälligsten sind die Figuren, deren Haut in unterschiedlichen Violetttönen glüht.

Zeichung: Frau in einem Bus. Sie schaut verträumt aus dem Fenster.
Legende: Marcello Quintanilha taucht Rio in bunte Farben. Reprodukt

Was auf den ersten Blick bizarr aussieht, entfaltet eine verblüffende Wirkung: Die unrealistischen Farben verleihen der Geschichte etwas Surreales, Fiebriges.

Zeichnungen in Bewegung

Das wiederum passt zu Quintanilhas Strich, der ebenso lebendig ist wie seine Figuren und Dialoge. Seine Zeichnungen sind immer in Bewegung, sie wirken schnell hingeworfen, sind aber ungemein präzise.

Die Bildsprache intensiviert den Sog dieser Geschichte bis zu einem Ende, das – nach zahlreichen Brüchen, Wendungen und Überraschungen – ebenso rau wie versöhnlich ist. 

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 27.3.2023, 17:20 Uhr.

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