Nachdem Siddhartha dem tumben Riesen Yatala mit weisen Worten neuen Lebensmut eingehaucht hat und dieser ihn lobpreist, hält er verwundert inne. «Ich kann es nicht glauben», sinniert Siddharta, «ich habe jemanden etwas gelehrt.» Und zwar gleich eine der zentralen Botschaften des Buddhismus: Dass alles, auch die menschliche Existenz, mit allem anderen verwoben ist.
In diesem Moment, am Anfang des sechsten Bands von Osamu Tezukas «Buddha», wird Siddhartha zum Erleuchteten, zum Buddha. Zuvor war er noch ein Suchender, der getrieben vom Durst nach Wahrheit und Weisheit von einem Meister zum anderen zog. Diese Odyssee durch den esoterischen Kosmos Indiens und seiner exzentrischen Gurus, Scharlatane und die nahezu selbstmörderischen asketischen Exzesse schilderte Tezuka vor allem im grossartigen fünften Band mit köstlicher parodistischer Zuspitzung.
Ohne Tezuka gäbe es keine Mangas
Der 1928 geborene Osamu Tezuka wird in Japan auch 25 Jahre nach seinem Tod als der «Gott des Mangas» verehrt. Als er 1989 starb, hinterliess er über 150'000 Comic-Seiten, 600 Geschichten und Serien und um die 60 Animationsfilme. Wichtiger noch als die schiere Quantität seiner Produktion ist jedoch seine Bedeutung für den Manga.
Osamu Tezuka sei ein wichtiger Grund dafür, dass die Comics in Japan populärer seien als anderswo, schrieb die angesehene Tageszeitung Asahi Shimbum in ihrem Nachruf: «Ohne Dr. Tezuka wäre die Explosion der Comics nach dem Krieg nicht erklärbar.» Das ist keineswegs übertrieben. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg schuf Tezuka den Manga, wie wir ihn heute kennen.
Als erster Japaner setzte er filmische Erzähltechniken ein: Mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Bildausschnitten, mit Speedlines und einer bewegten Seitengestaltung definierte er die dynamische Bildsprache, die den Manga bis heute auszeichnet.
Von Tierfabeln über Politthriller bis zu Astroboy
Wichtiger noch waren Tezukas inhaltliche Neuerungen: 1947, nur ein Jahr nach seinen Anfängen als Gag-Comic-Zeichner, legte er den 200 Seiten langen Band «Die neue Schatzinsel» vor, den ersten epischen Manga, der sich sensationelle 400'000 Mal verkaufte – das war die Geburtsstunde des so genannten «Story Manga» und damit der heutigen, nicht selten mehrere tausend Seiten langen Manga-Zyklen.
Zeit seines Lebens war Tezuka ein Neuerer. Es gibt kaum ein Genre oder einen Themenkomplex, den er nicht eingeführt oder zumindest entscheidend mitgestaltet hätte. Das geht von typisch japanischen Mädchencomics, Tierfabeln und Abenteuergeschichten für Jugendliche über dystopische Science-Fiction-Alpträume («Kirihito») und einem Politthriller wie «Adolf» bis zu dem 4000 Seiten langen mystisch-psychedelischen Trip «Hin O Tori». Auch im Westen wurde er berühmt – allerdings eher dank seiner Trickfilmserien wie «Astroboy» und «Kimba der weisse Löwe».
Buddhas Leben frei erzählt, aber eng an der Lehre
Mit dem zehnbändigen «Buddha» legte Osamu Tezuka eines seiner Hauptwerke vor. Zwischen 1972 und 1983 erzählte er auf gut 3000 Seiten, wie aus dem kränklichen Königssohn Siddhartha Gautama der Begründer des Buddhismus wurde. Gleichzeitig dient Buddhas Lebensgeschichte Tezuka dazu, sein eigenes, humanistisches und pazifistisches Welt- und Menschenbild zum Ausdruck zu bringen.
Tezuka schildert Siddhartas Lehr- und Wanderjahre nicht in Form einer esoterisch verklärten Abhandlung, sondern als ein opulentes Abenteuer-Epos mit Dutzenden von Schauplätzen und zahlreichen Figuren und Handlungslinien. Dabei nahm sich Tezuka etliche Freiheiten und verknüpfte bekannte Fakten und Legenden mit eigenen Zutaten. Die Handlung aber dient immer dazu, die zentralen Aussagen der buddhistischen Lehre zu vermitteln und sie in ihrem historischen Kontext zu zeigen.
Die Bedeutung, die «Buddha» für Tezuka selber hatte, liest sich an der Sorgfalt ab, mit der er die Figuren zeichnete und die Handlungslinien dieses vielstimmigen Epos verknüpfte.
Seiner Neigung zu albernem Klamauk konnte er freilich auch hier nicht ganz widerstehen: Die Figuren reden von modernen Erfindungen wie dem Telefon, und ein Prinz wird von seiner Mutter gerügt, weil er «Astroboy» und «Kimba» verschlingt.
Visionärer Bildersog
Diesen kleinen Makel macht die Bildsprache mehr als wett. In «Buddha» zieht Tezuka alle Register seines Könnens, seine Zeichnungen sind klar, präzise und sehr lebendig. Sie verbinden kindliche Rundlichkeit, abstrakte Stilisierung und abgeklärte Reife.
Genau wie Siddhartha auf dem Weg zu sich selbst ruhen die Bilder manchmal meditativ in sich selber, schwingen sich in kühne Visionen empor oder explodieren dynamisch mit der Handlung – und verschmelzen zu einem Bildersog, dem man sich kaum entziehen kann.
Das auf zehn Bände angelegte «Buddha» ist nicht von ungefähr ein unbestrittener Klassiker des Comics. In erster Linie jedoch ist er ein eindringliches, für alle Altersgruppen geeignetes Lesevergnügen.