Der israelische Schriftsteller und «Peacenik» David Grossman, heute 59-jährig, arbeitete im August 2006 an den letzten Seiten seines Romans «Eine Frau flieht vor einer Nachricht». Thema des Romans war die Angst einer Mutter vor dem möglichen Tod ihres Sohnes, der in den Krieg hatte ziehen müssen.
Israel erlebte damals den zweiten Libanonkrieg und Grossman hatte, zusammen mit anderen Prominenten, wenige Tage zuvor das sofortige Ende der Kämpfe gefordert, nachdem er ursprünglich den Krieg, als er ausbrach, befürwortet hatte.
Die Realität holte ihn ein
Noch während Grossman über die Ängste von Eltern vor dem Tod ihrer Kinder schrieb, erhielt er die Nachricht, dass sein Sohn am 12. August 2006 im Südlibanon gestorben war. Sein Panzer war von einer Rakete getroffen worden.
In seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sagte Grossman im Jahre 2010 in der Frankfurter Paulskirche: «Gerne würde ich Ihnen von Uri erzählen, aber das kann ich nicht. Nur so viel: Stellen sie sich einen jungen Mann am Anfang seines Lebensweges vor, mit all seinen Hoffnungen, seinem Feuer, seiner Lebensfreude, mit der Arglosigkeit, dem Humor, den Wünschen eines jungen Mannes. So war er. Und so waren Tausende und Abertausende anderer Israelis, Palästinenser, Libanesen, Syrer, Jordanier und Ägypter, die ihr Leben in diesem Konflikt verloren haben und weiterhin verlieren.»
Kein literarisches Staatsbegräbnis
Dass er nicht erzählen konnte, war keine Floskel. Eine lange Zeit war ungewiss, ob Grossman je wieder Schriftsteller sein könnte. Fünf Jahre nach dem Tod seines Sohnes erschien dann aber ein Buch, das wir nun auf Deutsch lesen können: Es heisst «Aus der Zeit fallen» und handelt – nein, es handelt nicht vom Tod von Grossmans Sohn! Und es handelt nicht von einem gefallenen Soldaten. Es handelt von Menschen, die ihre Kinder verloren haben.
Grossman nimmt den Tod seines Kindes aus der konkreten politischen Situation heraus. Mit Vers und rhythmisierter Prosa eröffnet er einen existentiellen Raum jenseits der geschichtlichen Wirklichkeit. Es geht ausschliesslich um die Tatsache des Todes selbst: ob wir ihn akzeptieren können, was er mit uns macht, wie wir ihm begegnen können.
Phantastisches Personal
«Eine Erzählung für Stimmen» nennt Grossman dieses Hörspiel-artige Poesiestück. Wir hören Stimmen, die sich in Ich-Form vernehmen lassen. Zu Beginn eröffnet ein Mann seiner Frau, er gehe jetzt. Wohin? Dorthin, zu seinem toten Kind.
Und er macht sich tatsächlich auf. Er geht in ein Phantasiereich. Dort trifft er seltsame Gestalten, die alle eines gemeinsam haben: den Verlust eines Kindes.
Links zum Thema
Da ist eine Frau, in Netze eingesponnen, gefesselt, verstummt. Da ist eine Hebamme, die stottert. Da ist ein halbirrer Lehrer, der sich in die Welt der Zahlen geflüchtet hat. Da ist ein Zentauer, halb Mensch, halb Schreibtisch: er ist Schriftsteller, kann aber nicht mehr schreiben, und hinter ihm öffnet sich ein Kinderzimmer, das vollgestopft ist mit allen Objekten, die je mit dem verstorbenen Kind in Berührung kamen: Kleider, Spielzeuge, Möbel, Bilder – der ganze Schuttberg ist verstaubt und von Spinnweben überzogen.
Seltsame Begegnung
Diese und andere Figuren vereinigen sich zu einem Chor der Trauernden. Sie verhandeln ihre Gefühle, ihre Verluste, und ihre Wut über die erdrückende Präsenz der Toten. Sie versuchen vor allem, ihre Sprache wieder zu gewinnen. Sie ziehen gemeinsam los, graben sich in die Erde ein, um ihren Kindern näher zu sein, stehen schliesslich vor der Wand, die Diesseits und Jenseits trennt.
Hier, an der Grenze, ereignet sich tatsächlich so etwas wie eine Begegnung mit den geliebten Toten und – eine Art Versöhnung schliesslich, ein Empfinden für die Notwendigkeit des Todes, ohne den es kein Leben und keine Schönheit gäbe.
Unübersetzbares Hebräisch
Grossmann habe die Sprache zerbrochen und in Splitter aufgelöst, nutze aber gleichzeitig die Klangfülle des Hebräischen, erzählt Anne Birkenhauer, eine erfahrene Übersetzerin auch von Lyrik. Oft stehe auf einer Zeile nur ein Wort. Auf Deutsch war das nicht zu machen. Anne Birkenhauer musste frei nachdichten. Was ihr auf beeindruckende Weise gelang: Sie ist wirklich Ko-Autorin.
Entstanden ist so ein modernes Requiem, das sich, jenseits aller Religionen, mit dem Tod befasst: Ein Geschenk an alle skeptischen, religionsfernen Menschen.