Simoné Goldschmidt-Lechners Roman ist anders gestaltet als die meisten Romane. Er erzählt nicht eine durchgehende Geschichte von Anfang bis Ende. Vielmehr reiht er unzähliger Bruchstücke von Geschichten aneinander.
Apartheid und Alltagsrassismus
In einem Kapitel beobachtet eine «Auntie» im Bus, wie eine schwarze Frau von Beamten aus dem Bus gezerrt wird, weil sie sich nicht auf den richtigen Platz setzen wollte. Sie stellt sich vor, was mit dieser Frau passiert: Sie wird verprügelt, eingesperrt. Ihr Leben wird wahrscheinlich nie mehr so sein wie vorher. Ein Rosa-Parks-Moment.
In einem nächsten Kapitel geht es um die Gegenwart, um das Kind einer «Cape Coloured»-Familie, die nach Deutschland ausgewandert ist. Das Kind hat dunklere Haut als seine Begleitung. Darum schaut man die Familie in der S-Bahn schief an: «Ja schaans amol, des Kind, des g'hört aber neda zu iana, oder?» Ein Paradebeispiel für Alltagsrassismus.
Fast alle Figuren im Roman erleben Gewalt, sei das physischer Natur (durch Prügel oder Mord) oder psychischer Natur, zum Beispiel durch rassistische Ausgrenzung. Goldschmidt-Lechner spannt den Bogen in ihrem Buch weit: von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart, von Südafrika nach Deutschland.
Daran zeigt sich: Es hat sich noch lange nicht genug verändert. Die Figur Auntie I. sinniert an einer Stelle: «Kein Ende in Sicht. Alles wiederholt sich. Ständig death and death and death. Wir kommen mit der Trauer nicht hinterher.»
In Bruchstücken
«Messer, Zungen» ist nicht nur seinem Inhalt nach bruchstückhaft und uneinheitlich, sondern auch formal. Längere Passagen sind auf Englisch geschrieben, manche Einwürfe stehen auf Afrikaans, andere sogar auf Schottisch. Einige Abschnitte sehen wie Songs aus.
Das irritiert beim Lesen, doch es ist einem Roman über die «Cape Coloured» angemessen: Die Gemeinschaft ist alles andere als einheitlich oder übersichtlich. Sie zeichnet sich durch ihre soziale, ethnische und sprachliche Vielfalt aus. Südafrika kennt seit Ende der Apartheid ganze elf Amtssprachen.
Gewalt gehört zur Identität
Ein gemeinsamer Nenner der «Cape Coloured»-Gemeinschaft ist die ständige Gegenwart von Gewalt. Doch damit gehe auch ein grosser Durchhaltewille einher, sagt Simoné Goldschmidt-Lechner. Die Autorin gehört selbst zu dieser Community. Als Kind ist sie mit ihrer Familie aus Südafrika nach Deutschland ausgewandert.
Die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Hoffnung sei typisch, sagt sie: «Dazu gehört auch, sich gegenseitig Gewalt anzutun, um zu beweisen, dass man ein Existenzrecht hat». Die Gewalt ist also ein Teil der Identität dieser Gemeinschaft.
Beeindruckendes Mosaikbild
Allerdings ist es auch eine Gemeinschaft, die historisch kaum beachtet wird. «Durch diese Geschichten möchte ich Menschen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört würden. Es geht mir darum, solche Erfahrungen in die Geschichtsschreibung einzuschreiben», sagt die Schriftstellerin.
Der Roman, der daraus entstanden ist, ist nicht trotz, sondern wegen seiner besonderen, verwirrenden Form ein Gewinn. Die vielen lose gereihten und ausdrucksstarken Bilder muten beim Lesen fast wie ein Traum an.
Aus den vielen Stimmen ergibt sich am Schluss ein beeindruckendes Mosaikbild einer Gemeinschaft – und nichts weniger als ein neuer Blick auf Südafrika.