«Um ein Kind gross zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf», lautet ein nigerianisches Sprichwort. Das Sprichwort appelliert an die Solidarität einer Gemeinschaft. Im Roman von Tabea Steiner erfährt es eine negative Verkehrung.
Als sich Timon nach der Trennung der Eltern zu einem zunehmend schwierigen Kind entwickelt, haben alle im Dorf plötzlich das Gefühl, sich einmischen zu müssen.
Es braucht die Abnormalen
Kammerspielartig verhandelt Tabea Steiner die enge Gesellschaft eines Dorfes, in dem sich alle kennen. Ein Dorf, in dem man aber über einander statt miteinander spricht.
Immer öfters ist Timon oder seine Mutter das Gespräch im Dorf: Die Alleinerziehende rennt zwischen Vollzeitjob und Elterngesprächen hin und her und bringt kaum noch die Kraft auf, sich um ihren Sohn zu kümmern. Timon wird umso verhaltensauffälliger, je mehr ihn seine Mutter vernachlässigt und er von seinen Mitschülern ausgegrenzt wird.
«In diesem Dorf existiert so etwas wie eine negative Akzeptanz», sagt Tabea Steiner über ihr Buch. «Solche Figuren wie Timon gibt es, damit sich eine Gesellschaft definieren kann. Es braucht das Abnormale, um das Normale zu umreissen.»
Fuchs und Hase
Immer wieder tauchen Tiere in Tabea Steiners Roman auf: Hasen, Füchse, Katzen, Igel. Tiere, die man in einer ländlichen Gegend antrifft, zum Teil in der freien Natur, zum Teil domestiziert als Haustiere. Mit den Tieren offenbart der Titel seine Doppeldeutigkeit: «Balg» bezeichnet nicht nur ein freches Kind, sondern auch eine abgezogene Tierhaut.
Tabea Steiner verwendet sie metaphorisch, stülpt sie Timon über: Das feine Fell der beiden Hasen etwa, die Timon im Geheimen bei einem älteren Dorfbewohner aufsucht und streichelt. Oder aber das Stachelkleid eines Igels, welcher sich unter Timons Fahrrad zusammenrollt und mit seinen Stacheln sich wehrhaft verteidigt.
Dickes Fell, weicher Kern
Weniger mit Worten als mit solchen Metaphern und Episoden bringt uns Tabea Steiner diesen schwierigen Jungen näher. Ein Junge, der zwanghaft versucht, seine Zärtlichkeit und Verletzlichkeit hinter einem dicken Fell zu verstecken. Das ist subtil und gekonnt gemacht – und so erstaunt es nicht, dass Tabea Steiner mit «Balg» diesen Frühling in Rezensionen und auf Literaturfestivals als die Neuentdeckung schlechthin gefeiert wurde.