Auch nach einer Flucht sind Migrantinnen und Migranten weiterhin vom Erlebten geprägt: Ihre Erinnerungen an Verfolgung und Flucht gleichen Minenfeldern. Zugleich versteht diese im Asylland kaum jemand. Wie damit umgehen?
Der deutsch-irakische Autor Abbas Khider hat einmal mehr seine eigene Biografie herangezogen, um mit «Der Erinnerungsfälscher» einen hinreissenden Roman über Menschen vorzulegen, die nie mehr irgendwo zu Hause sind.
SRF: Abbas Khider, der Held Ihres neuen Romans ist Schriftsteller wie Sie. Um überhaupt schreiben zu können, braucht er jedoch einen Trick: Er muss seine Erinnerungen fälschen. Was ist los mit ihm?
Abbas Khider: Said Al-Wahid glaubt, dass er an einer Art Erinnerungsverfälschung leidet, einer Störung, bei der man sich nicht vollständig erinnert und die Bruchstücke durch Pseudoerinnerungen zusammenleimt.
Saids Erinnerungen sind geprägt von seiner mehrjährigen Flucht aus dem Irak und einem Alltag in Deutschland, der immer wieder Wunden aufreisst.
Ja, da gibt es harte Brocken. Eigentlich sind es Minenfelder, die Said meidet, weil er fürchtet, er würde in Stücke gerissen. Andererseits will er schreiben und ist als Schriftsteller auf die Möglichkeiten der Erinnerung angewiesen. Aber nicht jede Erinnerungstür kann er öffnen: Er muss die Minenfelder in seinem Gedächtnis auf Distanz halten.
Erinnerung ist ein perfektes Thema, um über Migration zu schreiben.
«Der Erinnerungsfälscher» spielt während eines Langstreckenflugs, auf dem Said viel Zeit hat, seinen Gedanken nachzuhängen. Was gab Anstoss zu Ihrem neuen Roman?
Erst wollte ich einen Zukunftsroman schreiben. Aber dann tauchte eine Figur auf, die Probleme mit ihrer Vergangenheit hatte. So fing ich an, zum Thema Erinnerung zu recherchieren. Ich las Fachliteratur und befragte alle möglichen Menschen, auch Migrantinnen und Migranten. Da merkte ich, dass Erinnerung ein perfektes Thema ist, um über Migration zu schreiben.
Ich kannte einen Mann, der dreissig Jahre lang einen Koffer im Schlafzimmer stehen hatte.
Gab es in den verschiedenen Erinnerungserzählungen der Geflüchteten Gemeinsamkeiten?
Auffällig fand ich das Irrationale im Umgang mit Erinnerung. Die Verklärung der Vergangenheit, zum Beispiel: Wer einigermassen geschont aufgewachsen war und sein Land nicht mitten in einem Krieg verlassen musste, tendierte dazu, jede Gegenwart auszublenden und nur in der Vergangenheit zu leben. Obwohl es kein Zurück gab, nur schon, weil sich die Verhältnisse in der Heimat drastisch verschlechtert haben konnten. Ich kannte einen Mann, der dreissig Jahre lang einen Koffer im Schlafzimmer stehen hatte und ihn jeden Abend zur baldigen Rückreise überprüfte. Er starb im Exil.
Diese Irrationalität kenne ich auch von mir. Ich habe Kreditkarten, aber ich gehe nie ohne mindestens 400 Euro Bargeld aus dem Haus. Der Grund dafür ist, dass ich jahrelang auf der Flucht war und kein Geld hatte. Wenn ich von jetzt auf gleich fliehen müsste, hätte ich wenigstens Geld.
Und Ihr Protagonist trägt immer seinen Pass auf sich.
Weil er wie alle Migrantinnen und Migranten von seinen Erfahrungen geprägt ist, vom Leben in der Diktatur, im Krieg und auf der Flucht. Dazu kommen im Asylland dann Probleme mit den Behörden, mit strukturellem Rassismus und der drohenden Ausbürgerung ... Diese Ängste sind allgegenwärtig und können sich zu einer Phobie entwickeln. Deshalb klammert sich Said an seinen deutschen Pass.
Sie beschreiben auch, wie Said die irakische und die deutsche Welt nie zusammenbekommt. Zu vieles lässt sich nicht vermitteln. Wie lebt man mit einem solchen Riss?
Da gibt es unterschiedliche Formen. Einige Migrantinnen und Migranten sind kämpferisch und mischen sich ein. Andere schweigen, weil sie sich sagen, dass sich die Welt ja doch nicht ändern lässt. Wieder andere nehmen zwar am Leben im Exil teil, aber nie so ganz. Wie mein Protagonist bauen sie eine Mauer um sich herum und versuchen, zu schützen, was sie haben. Und wie Said sind sie immer bereit, abzuhauen, wenn es nötig wäre.
Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.