Die Diagnose des Neurologen ist so eindeutig wie brutal: Atrophie, Gewebeschwund, der Anfang der Demenz. Für den 72-jährigen Zvi, den Protagonisten in «Der Tunnel», bricht eine Welt zusammen.
Zvi lebt in Tel Aviv. Er ist pensionierter Strassen- und Tunnelingenieur. Das Unheil hat er bereits geahnt, bevor er den Neurologen aufsuchte. Er konnte sich plötzlich keine Vornamen mehr merken. Jetzt, nach dem Arztbesuch, hat er Gewissheit.
Der Verfall ist nicht zu stoppen
Die Diagnose verunsichert den Protagonisten. Wie sehr, schildert der Roman äusserst subtil. Yehoshua zählt neben Amos Oz und David Grossman zu den prominentesten literarischen Stimmen Israels.
Der Autor zeigt sein ganzes literarisches Talent, wenn er Zvi über seine Zukunft mit fortschreitender Demenz sinnieren lässt: «Wenn in der neu entdeckten Atrophie ausgerechnet Vornamen abhandenkommen, ist zu befürchten, dass irgendwann auch die Namen seiner Frau, seiner Kinder und Enkel in diesem schwarzen Loch verschwinden.»
Keine Aufmerksamkeit erwecken
Zvi nimmt sich vor, Vorkehrungen zu treffen: «In der Öffentlichkeit gilt es von jetzt an, auf der Hut zu sein. Nachlässige Kleidung und abgetragene Hausschuhe können leicht den Verdacht von Verwirrtheit wecken.»
So weit, so überzeugend. Doch ab jetzt beginnen in diesem Roman die Probleme. Zvi lässt sich dazu überreden, einem jungen Tiefbau-Ingenieur als Berater zur Seite zu stehen. Dieser soll im Auftrag der Regierung in der Wüste eine geheime Strasse bauen.
Anspielungen bleiben diffus
Nicht nur wird das Erzähltempo zunehmend schleppend. Auch bleibt das eigentliche Ziel des Projekts seltsam im Dunkeln. Mit dem Topos der Wüste spielt Yehoshua vermutlich auf den Traum an, den schon die Gründerväter Israels geträumt haben, nämlich die weiten Sandlandschaften des Staats urbar zu machen. Klar wird dies jedoch nicht.
Tatsächlich pflegt der Autor aber individuelle Geschichten mit der politischen Realität zu verschränken. Zudem ist er als Friedensaktivist immer wieder für ein friedliches Zusammenleben von Israeli und Palästinensern eingetreten.
Die Sehnsucht nach Frieden versucht er offenbar auch im aktuellen Roman literarisch zu übersetzen: Die beiden Ingenieure stehen in der Wüste vor der Frage, wie sie mit einem Berg umgehen sollen, der sich an einer Stelle erhebt, wo die Strasse durch soll. Auf dem Berg lebt eine palästinensische Familie.
Die beiden entscheiden sich dafür, den Berg nicht abzutragen. Sie planen vielmehr, einen Tunnel durch den Berg zu treiben und dadurch die Palästinenser in Ruhe zu lassen.
Metaphorik überzeugt nicht
Dass es ausgerechnet der demenzkranke Zvi ist, der die Tunnelidee entwickelt, lässt erneut eine tiefere Metaphorik erahnen: Erst durch das Vergessen von Unrecht eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Zukunft.
Allerdings ist dieser Zusammenhang zu wenig scharf herausgearbeitet, als dass er überzeugen würde. Wie so vieles in diesem Roman. So etwa auch Zvis Bestreben, in seiner Ehe sexuell wieder aktiver zu werden, um dadurch die Demenz zu bremsen. Man fragt sich: Was soll das?
Aufs Ganze zählt «Der Tunnel» wohl kaum zu den grossen Romanen des Altmeisters Abraham B. Yehoshua. Wer ihn als begnadeten Dichter erleben möchte, tut dies lieber mit einem seiner älteren Romane.