Seine Autobiografie wollte er nicht schreiben – und hat es dann doch getan. In «Tumult» finden sich Bruchstücke seiner Erinnerungen. Enzensberger, einer der wichtigsten Intellektuellen deutscher Sprache, war ein Verwandlungskünstler. Einer, der das Spiel liebte und die Mathematik.
Nie wollte er sich festlegen lassen auf einmal gefasste Positionen und irgendwann abgelebte Haltungen. Der «fliegende Robert» im «Struwwelpeter» ist sein Emblem.
1929 in Kaufbeuren, Süddeutschland, als ältestes von vier Geschwistern in einem Beamtenhaushalt geboren, debütiert Enzensberger mit dem Gedichtband «Verteidigung der Wölfe».
Ein grosser Auftritt: Hans Magnus Enzensberger wird Mitglied der «Gruppe 47» und erhält früh den Georg-Büchner-Preis. Sein umfangreiches Werk umfasst alle Genres: Lyrik, Prosa, Drama, Essays, Übersetzungen.
Der «schlechte Genosse»
Politisch engagiert er sich auf der Linken und wird Herausgeber des «Kursbuch», dem Debattenforum der Zeit. Obwohl 1968 auch für ihn die «Revolution auf der Tagesordnung steht», ist Enzensberger nie ganz dabei. «Ich war der schlechte Genosse», sagt er im Rückblick.
«Skeptisch souverän» sei seine Position, die er auch später nicht widerrufen will. Mit Gaston Salvatore gibt er die Kulturzeitschrift «Transatlantik» heraus, mit Franz Greno die Bücher der «Anderen Bibliothek», die seinen literarischen Vorlieben und Entdeckungen gewidmet sind.
Zweifelhaft ist ihm der historische Fortschritt in seinen Balladen «Mausoleum» und dem «Untergang der Titanic», seinen literarischen Hauptwerken aus den 1970er-Jahren.
Die Lyrik steht weiter im Zentrum seiner Literatur, aber mit seinen Essays «Mittelmass und Wahn» wird er auch zum profilierten Diagnostiker seiner Zeit.
Intellektueller Tausendsassa
Hans Magnus Enzensberger mischt sich ein in die öffentlichen Verhältnisse, überraschend im Auftritt und immer unberechenbar in der Haltung. Er kritisiert die Rechtschreibreform, die Konstruktion der EU und die Herrschaft des Internets. Er befürwortet den Irakkrieg und sieht in Islamisten nur radikale Verlierer.
«Einmischung auf eigene Gefahr», wie er schon früh erkennt. Sensibel ist er aber auch für die Tapetentüren der Öffentlichkeit, wenn die Debatte eskaliert.
Bei alldem bleibt er Beobachter, immer in Halbdistanz. Neugier und Wandlung bleiben sein Lebensprinzip. Spuren verwischt er gern und tarnt sich als Schriftsteller unter diversen Pseudonymen.
Das geht nicht ohne Eitelkeiten, die er aber mit Ironie, im Scharfsinn der Gedanken und der verlässlichen Präzision seiner Wahrnehmungen ausbalanciert.
Antworten auf ungestellte Fragen
Diskretion im Privaten war Enzensbergers Leidenschaft, mit zwei Kindern aus drei Ehen. «Manchmal wäre man froh, sich selbst los zu sein», zitierte er Max Beckmann in seinem Buch «Fallobst» von 2019. Notizen zu den Fallstricken und Zumutungen des Alltagslebens, dem Enzensbergers Interesse auch jetzt noch gilt.
Er ist einer, der nicht langweilen will – mit überraschenden Antworten auf noch nicht gestellte Fragen.
«Leichter als Luft» heisst eine Gedichtsammlung. Programmatisch wie später die «Geschichte der Wolken». Der Dichter verschwindet, leichthin, wie es seinem poetischen und persönlichen Ideal entspricht.
Enzensberger ist 93-jährig in München gestorben. Im Gedächtnis bleibt einer, der in der deutschen Kultur grosse Spuren hinterlässt.